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Ist ein soziales Europa eine Illusion?

Von Cathren Landsgesell

Politik

Der Jurist Wolfgang Mazal über die Chancen eines einheitlichen Arbeits- und Sozialrechts in Europa.


"Wiener Zeitung":Was ist für Sie das stärkste Argument, warum man zur EU-Wahl gehen sollte?

Wolfgang Mazal: Es ist wichtig, von demokratischen Partizipationsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, wenn man ein Interesse an den politischen Institutionen, wie etwa dem Europäischen Parlament, hat. Im Wahlakt zeigt sich, dass Politik kein Thema der "Großkopferten" ist, sondern aller Beteiligten in einem Gemeinwesen.

Ist Europa bzw. die EU denn ein Gemeinwesen? Viele der Jugendlichen, mit denen wir anlässlich der "Future Challenge" sprechen, sagen, dass Europa ihnen nicht sozial genug ist.

Europa ist kein Staat, und dies ganz bewusst nicht. Es geht darum, Gesellschaften mit völlig unterschiedlicher Geschichte zunächst in einen einheitlichen Wirtschaftsraum zu bringen und eine einheitliche Identität zu entwickeln. Auf absehbare Zeit wird es kein einheitliches europäisches Sozialsystem geben. Das Ziel ist es, dass die Mitgliedsstaaten ihre Sozialsysteme immer besser koordinieren, sodass im Laufe mehrerer Generationen ein insgesamt sozialeres Europa entsteht. Das bedeutet aber nicht, dass dann die sozialstaatlichen Regeln in ganz Europa gleich sind. Jede Gesellschaft kann ihre eigenen Regeln haben, denn jede Gesellschaft hat ihre eigenen Präferenzen aufgrund ihrer Geschichte.

Wenn wir schon einen gemeinsamen Wirtschaftsraum haben, warum nicht auch einen gemeinsamen Sozialraum?

Wer ist wir? Die EU hat jedenfalls keine Kompetenz, ein einheitliches Sozialrecht zu schaffen. Es wäre eine Illusion und damit eine Überfrachtung der Europäischen Idee, wenn die Menschen den Eindruck bekommen, dass dies eine Aufgabe der Europäischen Union ist und diese aber nicht handelt. Die konkrete Gestaltung des Sozialrechts ist primär Aufgabe der Mitgliedsstaaten.

Gibt man damit nicht jenen recht, die sagen, die EU sei nur für die Wirtschaft da? So wird Budgetdisziplin verlangt, aber soziale Absicherung bleibt unverbindlich.

Natürlich, da ist eine Diskrepanz. Es ist aber wesentlich einfacher, Konsens darüber herzustellen, wie man Wirtschaft betreibt, als in der Frage, wer in welcher Situation Anspruch auf Sozialleistungen haben und wie diese finanziert werden sollen. Da bestehen Unterschiede in den Präferenzen der Bürger. Daher hat man sich beim Sozialen auch nicht der Harmonisierung des Rechts verschrieben, sondern der Koordinierung. Die Zeit für Einheitlichkeit im Arbeits- und Sozialrecht ist einfach noch nicht reif.

Mit der "Europäischen Säule sozialer Rechte" bekannten sich vor einem Jahr EU-Parlament, Rat und EU-Kommission zu einer "gerechteren und faireren" EU. Ist das nur ein Lippenbekenntnis?

Die Umsetzung geschieht auf Ebene der Mitgliedsstaaten; die EU berücksichtigt das dort, wo sie Kompetenzen hat. Die Geschichte der einzelnen Mitgliedsstaaten, und die Präferenzen der Menschen sind zu unterschiedlich. Bürgern der Slowakei oder der baltischen Staaten, die Jahrzehnte in einem System gelebt haben, das Eigenverantwortung kleingeschrieben hat, kann man keine wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen fundamental anderer Staaten vorschreiben. Daher hat die EU im Lissabon-Vertrag bewusst das Subsidiaritätsprinzip verankert. Würde man alles in Europa regeln, hätte die nationale Politik kein Profilierungspotenzial mehr.

Wäre das so schlimm?

Das würde einen ganz wichtigen Aspekt des Sozialen gefährden: Sozial heißt ja nicht, dass man jemandem etwas schenkt, sondern sozial heißt "verbunden sein". Das Thema ist Kohäsion. Das Soziale wird gerade in der österreichischen Gesellschaft oft auf eine Art Charity-Vorstellung reduziert. Es geht aber nicht darum, dass jeder alles bekommt, was er braucht, sondern um Verbindung. Wenn aber nicht mehr einsichtig ist, warum jemand etwas bekommt und jemand anderer nicht, gefährdet das die soziale Kohäsion einer Gesellschaft.

Europa zerbricht aktuell an der sozialen Frage. Wäre sozialstaatlich abgesicherte Kohäsion in Europa keine Lösung?

Ich hoffe auf eine gute Entwicklung, doch ist das ein Mehrgenerationenprojekt. Das sehe ich gefährdet, wenn man es mit Illusionen überfrachtet, die nicht eingelöst werden können. Kohäsion entsteht zunächst in der Familie, dann in der Gemeinde oder im Freundeskreis, dann im Mitgliedsstaat und dann in der EU. Das kann man nicht verordnen, das muss in den Herzen der Bürger wachsen.

Ist dafür noch Zeit? Rechtsgerichtete Parteien bringen die nationale Kohäsion gegen Europa in Stellung.

Diese Verschiebung ist aus meiner Sicht das Ergebnis der starken Betonung von Solidarität in den letzten Jahrzehnten und der Vernachlässigung von Eigenverantwortung. Wenn jemand Eigenverantwortung postuliert, gilt das heute schon als dramatischer Ruck nach rechts. Das kann man aber auch entspannt als Verschiebung der Gewichte in Richtung Eigenverantwortung sehen. Solidarität funktioniert nicht ohne Eigenverantwortung.

Ist der Brexit der Beginn der Desintegration der EU?

Ich hoffe nicht. Es zeigt mir einmal mehr, dass man die Europäische Idee nicht überfrachten darf. Es ist schon interessant: Solange die Linke mehr Macht hatte, war sie in Österreich keineswegs europafreundlich. Jetzt dient die Forderung nach einem sozialen Europa als eine Art Heilsvorstellung, ohne dass die Komplexität des Themas beachtet wird. Da macht man es sich zu einfach.

Was ist die größte Herausforderung für Europa?

Die Akzeptanz von Vielfalt. Sind wir imstande, Unterschiedlichkeit zu akzeptieren?

Die Future Challenge der "Wiener Zeitung" ist ein Videowettbewerb für
Schüler und steht in diesem Jahr unter dem Motto #europa4me. Im Zentrum
stehen die Europawahlen. Wer noch eine Schulklasse anmelden möchte,
bitte unter futurechallenge@wienerzeitung.at