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Warum Kickl sagt, was er sagt

Von Brigitte Pechar

Politik

Politikexperten über die Strategie des blauen Innenministers. Bundespräsident Van der Bellen stellt Österreichs Verständnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention klar.


Wien. Seit Dienstag steht Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) im Kreuzfeuer der Kritik. Er tut dies nicht zum ersten Mal, diesmal aber hat er neben der Opposition nahezu die gesamte Jurisprudenz gegen sich aufgebracht - vom Präsidenten des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages, Rupert Wolff, bis zur Präsidentin der Richtervereinigung, Sabine Matejka. "Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht." Dieser Satz - im Zusammenhang mit der Menschenrechtskonvention und mit Blick auf leichtere Abschiebungen ausgesprochen im ORF-"Report" am Dienstag - hat den Hautgout, er maße sich Allmachtsansprüche an und wolle sich über das Recht stellen. Es geht in der Debatte auch um das Primat der Politik.

Am Freitag fand Bundespräsident Alexander Van der Bellen in einem Pressegespräch dazu neuerlich klare Worte: "Der Innenminister hat, wenn ich ihn richtig verstanden habe, die Europäische Menschenrechtskonvention infrage gestellt. Das geht natürlich gar nicht." Die EMRK sei ein Grundkonsens der Zweiten Republik.

Die EMRK stehe in Österreich seit rund 60 Jahren im Verfassungsrang, betonte der Bundespräsident. "Daran wird sicher nicht gerüttelt." Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sei eine "Antwort auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust" gewesen, erinnerte Van der Bellen. Dieser völkerrechtliche Vertrag sei aber auch "schlicht europäisches Recht". Daran könne Österreich von sich aus gar nichts ändern. "Da wäre das Einvernehmen der anderen Vertragsstaaten erforderlich, und europäisches Recht kann nicht vom einzelnen Mitgliedstaat geändert werden."

Van der Bellen: Kein Rütteln an Grundrechten

Ein "Rütteln" an diesen Grundrechten ("Minderheitenrechte wie Freiheitsrechte") sei nicht akzeptabel, weil damit ein Grundkonsens der Zweiten Republik in Frage gestellt werde, sagte Van der Bellen und nahm - ohne es explizit auszuführen - auch die ÖVP von Bundeskanzler Sebastian Kurz in die Pflicht: "Ich nehme an, dass sich alle Mitglieder der Bundesregierung dieser Tatsachen bewusst sind." Mit dem Innenminister werde er ein Gespräch führen, der Inhalt dessen bleibe aber vertraulich, sagte Van der Bellen.

Die Aussage Kickls, dass das Recht der Politik zu folgen habe und nicht die Politik dem Recht, sorgt auch in Deutschland für Aufregung. So wirft die deutsche Justizministerin Katarina Barley (SPD) Kickl in der Onlineausgabe der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) vor, den Rechtsstaat zu "sabotieren". Konkret sagte Barley, die für die SPD als Spitzenkandidatin in die EU-Wahl zieht: "Als Innenminister sollte Herr Kickl den Rechtsstaat verteidigen und ihn nicht mit Worten sabotieren."

Auch die FDP kritisierte den österreichischen Innenminister scharf. Es sei "eine Schande", dass Kickl "Stellung gegen europäische Grundwerte bezieht", wurde der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle zitiert.

Hajek: "In der Demokratie darf man über alles reden"

Aber warum gibt es eine derartige Empörung? "Die Fragen von Kickl sind absolut legitim. Man kann in einer Demokratie über alles reden", sagt Politologe und Meinungsforscher Peter Hajek auf die Frage der "Wiener Zeitung". Wenn man allerdings über Menschenrechte reden wolle, dürfe das nicht anlassbezogen stattfinden. "Kickl hat natürlich recht, wenn er sagt, die Politik hat das Primat. Denn der Gesetzgeber schafft das Recht. Was aber Kickl - bewusst oder unbewusst - nicht gesagt hat, ist, dass die Verfassung natürlich über den Parteien und über der Politik steht." Sonst könnte man übermorgen eine Volksabstimmung über Minderheitenrechte machen.

Hofer: "Kikl hat das mit voller Absicht gesagt"

Dass der Mastermind der FPÖ, der hinter sämtlichen Kampagnen der vergangenen Jahre stand, hier unbewusst oder unbedacht gesprochen hat, glaubt Politikberater Thomas Hofer nicht. "Ich bin sicher, dass das mit voller Absicht gesagt wurde. Herbert Kickl weiß, was er tut." Und das komme besonders bei freiheitlichen Zielgruppen gut an. Kickl habe die Menschenrechtskonvention ja nicht erst seit gestern am Kieker, schließlich habe er auch bewusst die Abschiebung von straffällig gewordenen Flüchtlingen damit verbunden. "Sicherlich macht die Politik Gesetze, aber: Kickl hat sich über das Recht gestellt. Und das geht gar nicht", sagt Hofer.

Die Gretchenfrage ist, wie kommt das bei den FPÖ-Wählern an? "Natürlich gut", sagt Hajek. Denn Kickl habe die Aussage ja nicht im luftleeren Raum gemacht, sondern diese in Verbindung gebracht mit straffällig gewordenen Asylwerbern. Wer die Volksseele kenne, wisse, dass diese im Sinne des Sicherheitsdenkens so manches Gesetz nicht ganz so klar ausgelegt wissen will, wie es festgeschrieben sei - hier eben die Menschenrechtskonvention. Kickl könne hier also - wahrscheinlich sogar im Wählerpool des Regierungspartners ÖVP - Punkte sammeln, sagt Meinungsforscher Hajek. Und Politikberater Hofer sieht sogar eine bewusste Provokation. Kickls Funktion im FPÖ-Regierungsteam sei es nämlich, im Gegensatz zu Vizekanzler Heinz-Christian Strache, der den "good cop" mime, den "bad cop" zu geben. "Kickl bedient die FPÖ-Kernwählerschichten aus der Oppositionszeit", sagt Hofer, und dort könne er auch punkten.

Rendi-Wagner fordert Rücktritt von Kickl

Für die Opposition ist die Aussage Kickls jedenfalls Grund genug, seinen Rücktritt zu verlangen. "Ich werde nicht müde zu sagen, hätte er einen Funken von Anstand und einen Funken von Respekt unserer Demokratie gegenüber, müsste er hier und heute sofort zurücktreten", forderte SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner am Freitag im Rahmen ihrer Grundsatzrede bei der SPÖ-Klausur. Sie kündigte einen Misstrauensantrag der SPÖ gegen den Innenminister an, wie das zuvor bereits Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger für ihre Fraktion im Parlament angekündigt hatte.

Aber dass ein Misstrauensvotum Erfolg haben könnte, davon geht niemand aus. "Bevor Heinz-Christian Strache Kickl aus der Regierung wirft, löst er eher die Koalition auf", sagt Hajek. Und auch Thomas Hofer pflichtet hier bei: "In der FPÖ ist eine Trennung von Kickl undenkbar."

Und aus der FPÖ sind ja bereits zahlreiche Verteidiger ausgerückt. Der geschäftsführende Klubobmann Johann Gudenus holte am Freitag gleich zum Gegenschlag gegen die SPÖ aus: "Wenn Rendi-Wagner einen Funken Anstand hätte, dann würde sie sich dafür entschuldigen, dass die SPÖ-Regierung im Jahr 2015 Rechtsbruch begangen hat, indem sie zigtausende Migranten völlig rechtswidrig nach Österreich einwandern ließ."

Und FPÖ-Chef Strache teilte am Donnerstagabend auf seinem privaten Facebook-Account einen Facebook-Kommentar der FPÖ-Abgeordneten Petra Steger, in dem sie angesichts der Kritik an Kickl von einem "pseudomoralischen Standgericht" schreibt.

Unterdessen haben bereits mehr als 200 heimische Schriftsteller respektive Künstler den Aufruf "Kickl muss gehen" unterzeichnet.