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"Die Erfüllung eines Traums"

Von Werner Reisinger

Politik
© Christoph Liebentritt

Bei den kommenden EU-Wahlen steht für Österreich Enormes auf dem Spiel, sagt Irmgard Griss.


Wien. Sie ist die wohl prominenteste Alliierte der Neos: die ehemalige Höchstrichterin Irmgard Griss, die für die Partei als Justizsprecherin fungiert. Mit der "Wiener Zeitung" spricht sie über die Chancen der Neos bei den anstehenden EU-Wahlen und in Wien, über Fehler in der Migrations- und Justizpolitik.

"Wiener Zeitung": Frau Doktor Griss, die amtierende Bundesregierung setzt auch starke wirtschaftsliberale Schwerpunkte, Stichwort 12-Stunden-Tag. Müssten die Neos nicht zumindest damit zufrieden sein?

Irmgard Griss: Positiv ist, dass etwas geschieht. Aber die Frage ist, wie ernsthaft die Reformen angegangen werden. Da bleibt vieles an der Oberfläche. Die Abschaffung der Kalten Progression wurde vertagt. In anderen Fragen werden negative Trends sogar noch verstärkt. Beispiel Bildungspolitik: Es bräuchte massive Investitionen, vor allem in die Betreuungsverhältnisse. Was tut die Regierung? Sie macht das Gegenteil. Sie schiebt den Ausbau der Ganztagsschulen hinaus. Dafür gibt es einen Familienbonus für Besserverdienende, die das oft gar nicht nötig haben und sich stattdessen bessere Kinderbetreuung wünschen. Das ist Politikmarketing: Wir belohnen die Fleißigen, Tüchtigen, Anständigen - auf Schwächere wird hingehauen. So fühlen sich die eigenen Anhänger zwar bestätigt, aber gesamtgesellschaftlich wird eine Spaltung vorangetrieben.

Auf EU-Ebene wollen die Neos eine Allianz gegen den Rechtsruck schmieden, in Wien könnte sich Beate Meinl-Reisinger eine Zusammenarbeit mit ÖVP und FPÖ gegen die SPÖ vorstellen - für viele ein Widerspruch.

Ich glaube, das ist eine offene Frage, was dann nach der Wahl sein wird. Auf der einen Seite sind die Rechtspopulisten eine große Gefahr für Europa. Auf der anderen Seite, wie in Wien, sind eingefahrene Machtstrukturen ein Problem. Sie sind missbrauchsanfällig.

Der Außenminister Luxemburgs, Jean Asselborn, sagt, es werde ein Kerneuropa entstehen, sollte die Union aufgrund eines möglichen Wahlerfolgs der extremen Rechten auseinanderbrechen. Teilen Sie seine Befürchtungen?

Ich glaube, dass wir noch nie vor einer so weitreichenden Entscheidung gestanden sind. Ich neige normal nicht zum Alarmismus und bin auch ein zutiefst optimistischer Mensch. Aber man kommt an viele Wähler der Rechtspopulisten nicht mehr heran. Die Rechtspopulisten sind ein Gegner, der keine Hemmungen hat, Falsches zu erzählen. Und man kann es nicht mit gleicher Münze zurückzahlen, man muss bei der Wahrheit bleiben. Für die, die es noch anders kennen, ist die EU die Erfüllung eines Traums. Wir alle sind aufgerufen, vor der Wahl das Gespräch mit Skeptikern und Gegnern zu suchen und zu erklären, was das vereinte Europa für ein immenser Gewinn ist.

Es gibt eine starke Zunahme höchstrichterlicher Entscheidungen. Wie erklären Sie sich das?

Das trifft auf den Verfassungsgerichtshof (VfGH) zu, nicht aber auf den Obersten Gerichtshof oder den Verwaltungsgerichtshof. Hier scheint der Anfall ziemlich gleich geblieben zu sein. Eine Ursache für mehr aufsehenerregende VfGH-Entscheidungen ist, dass die Politik sich bei manchen Themen scheut, etwas zu entscheiden, und das lieber den Gerichten überlässt, besonders dann, wenn es gesellschaftspolitisch strittig ist - wie bei der gleichgeschlechtlichen Ehe. Nach der Entscheidung des VfGH wäre Zeit genug gewesen, hier ein Gesetz zu erlassen. Aber man hat es vorgezogen, die heiße Kartoffel nicht anzugreifen.

Ist es nicht so, dass die Politik mit manchen Gesetzen sehenden Auges eine Verfassungswidrigkeit oder eine Unvereinbarkeit mit EU-Recht in Kauf nimmt?

Leider ja. Auch wenn man mit guten Gründen annehmen muss, dass ein Gesetz verfassungswidrig oder EU-rechtswidrig sein wird: Man tut es trotzdem - für den kurzfristigen politischen Erfolg. Denken Sie an die Kürzung der Familienbeihilfe für Bürger anderer EU-Staaten. Wenn Sie am Stammtisch fragen, sollen die gleich viel wie die Österreicher kriegen, werden die meisten wohl Nein sagen. Die Äußerungen des Herrn Innenminister, man müsse in der Frage von Abschiebungen "ein bisserl kreativ sein", ist ganz typisch. Auch Bundeskanzler Kurz sieht sich gerne als Vorreiter. Alleingang bedeutet aber oft, wir setzen uns über europäisches Recht hinweg. Warum ist das gefährlich? Wir sind ein kleines Land, und als solches sind wir darauf angewiesen, dass Regeln eingehalten werden - aus ureigenstem Interesse. So wie der Reiche nicht auf den Rechtsstaat angewiesen ist, der Ärmere jedoch schon. Für weniger Starke ist es wichtig, dass gleiches Recht für alle gilt.

Ganz klar müssen wir auch etwas gegen Kriminalität unter manchen Migranten tun. Die spannende Frage ist aber, was. Die Grundrechte müssen unantastbar sein. Die Würde des Menschen muss respektiert werden. Diese auch gesellschaftliche Basis können wir nicht verlassen.