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Die Entkoppelung von "christlich" und "sozial"

Von Gerfried Sperl

Politik

Die bisher dominante Vorstellung, christlich sei identisch mit sozial, ist historisch gesehen jung.


Wien. Wer in der Vergangenheit von einer christlichen Politik oder Partei gesprochen hat, verband damit automatisch den Begriff "sozial". Das ist seit kurzem nicht mehr so. Reinhold Mitterlehner, dem früheren Vizekanzler und ÖVP-Chef wurde Ende Jänner in den "Oberösterreichischen Nachrichten" vorgeworfen, ein "Linker" zu sein. Er habe sich für Lehrlinge eingesetzt, die trotz eines laufenden Asylverfahrens abgeschoben werden sollten. In einem Leserbrief wehrte sich Mitterlehner gegen diese Einordnung, denn seine Position "lässt sich mit christlich-sozial oder einfach mit Hausverstand begründen." Im Blick auf aktuelle Trends, irrt der Ex-Politiker. Auch Angela Merkel wird in Teilen der CDU, von den meisten CSU-Funktionären sowieso, als "links" eingestuft.

Fehleinschätzung Nummer eins: Der "Hausverstand" lag in Österreich vor zehn, fünfzehn Jahren noch in der Mitte, heute tickt er rechts, zwischen Sebastian Kurz und H.C. Strache. Fehleinschätzung Nummer zwei: "Christlich-sozial" ist nach Einschätzung einer Mehrheit der Wählerschaft keine Position der politischen Mitte mehr, sondern eine linke Vorstellung, eine Art Gutmenschen-Ideologie. Fehleinschätzung Nummer drei: Der Christdemokrat Mitterlehner konnte lange Jahre sein christliches Denken und sein wirtschaftliches Handeln mit sozialen Einstellungen vereinbaren. Das tut er wohl heute noch, ist damit aber nicht mehr up to date. Selbst in der eigenen Partei nicht.

Was ist passiert? Christlich und sozial unterliegen einem Prozess der Entkoppelung. Die "soziale Marktwirtschaft" ist der "liberalen Marktwirtschaft" (extremer: dem "Neoliberalismus") gewichen - ein Paradigmenwechsel hat sich vollzogen, eine grundlegende Änderung der politisch-wirtschaftlichen Denkweise. Seit etwa einem Jahr entwickelt sich deshalb in Österreich eine mit zunehmender Schärfe geführte Ideologiedebatte - auf der einen Seite der Hauptautor des ÖVP-Programms 2015, der heutige Minister Gernot Blümel und Wirtschaftsbund-Chef Harald Mahrer, assistiert vom Alt-Ideologen Andreas Khol. Auf der anderen Seite stehen der ehemalige Raiffeisen-Chef Christian Konrad im Verein mit Exponenten der Katholischen Aktion sowie Caritas-Präsident Michael Landau und Theologen wie der Grazer Kurt Remele. Die Grundthese Blümels ist die zum politischen Lehrsatz der "neuen ÖVP" gewordene Behauptung, die kirchliche Soziallehre sei nichts anderes als eine "Philosophie". Der Schluss, den Andreas Khol daraus im "Standard" zog, lautet: "Es gibt keine christlich-soziale Politik". Kritiker sehen darin eine Entmachtung der Bergpredigt. Was heute passiere, fasste, ebenfalls im "Standard", die katholische Kolumnistin Traude Novy zusammen: Das neue Denken der ÖVP sei zwar sozial, "aber nur für Leistungsträger und alle, die schon was besitzen".

Die bisher dominante Vorstellung, christlich sei identisch mit sozial, ist historisch gesehen jung. Im Jahre 1891 veröffentlichte Papst Leo XIII. seine Sozialenzyklika "Rerum Novarum" worin er sowohl Sozialismus als auch Kapitalismus angriff und eine staatliche Sozialpolitik zum Schutz der arbeitenden Menschen forderte. Zentral wandte er sich gegen "das freie Spiel der Kräfte", eine Kritik, die auch heute gegen den grenzenlosen Wirtschaftsliberalismus zu gelten hat und vom argentinischen Papst Franziskus geteilt wird. Die Spannung zwischen Besitzenden und den für sie Arbeitenden (bis hin zur Fronarbeit in Bangladesh) ist alt. Strukturen und Methoden der "Herren" und der "Knechte" (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) haben sich gewandelt, die Polarisierung hat sich phasenweise auf Rebellionen und Revolutionen zugespitzt.

Im Mittelalter gab es regelrechte Kriegsunternehmer wie den durch Friedrich Schiller zu literarischer Bedeutung gewachsenen Wallenstein oder die italienischen Condottieri, die mit ihren Söldnerheeren kleine Stadtstaaten errichteten oder Reichtümer anhäuften. Heute sind an deren Stelle schnell gewachsene Internet-Konzerne getreten. Sie können sogar Wirtschaftskriege entfachen. Ihre Territorien sind nicht geografisch definierbar, ihre Geschäfts- und Konfliktfelder sind die "Märkte" (manchmal freilich mit staatlichem Hintergrund - Beispiel China und Huawei), ihre Manager sind vergleichbar jenen Rittern, denen früher die Rüstungen, heute die Ausbildung an den Wirtschaftsuniversitäten zu massiver Immunität verhalfen.

Wir wissen es nicht, weil wir die Auswirkungen noch nicht kennen. Aber möglicherweise ist die Untersagung der Fusion zwischen Alstom und Siemens durch die EU-Kommissarin Margarethe Vestager ein mindestens so wichtiges historisches Ereignis wie der Brexit. Die Megafusion hätte auf der einen Seite gegenüber China eine ökonomische Großmacht auf dem Verkehrs- und Energiesektor geschaffen, andererseits aber die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten Frankreich und Deutschland (und die der EU zugleich) eingeschränkt. Ein weiterer Megakonzern (neben Google oder Amazon) hätte damit beginnen können, ohne demokratisches Mandat das Weltgeschehen mitzubestimmen.

Angesichts dieser weltpolitischen Dynamik ist die Entkoppelung zwischen christlich und sozial, ja sogar die gleichzeitige Infragestellung der Verbindung zwischen christlich und demokratisch eine konsequente Hochspannungsleitung zur Machtergreifung des politisch-ökonomischen Zeitgeists. Wenn in der Gesellschaftspolitik die Reduzierung des Christlichen auf eine private Haltung (Mahrer im "Falter") tatsächlich das Modell der Zukunft sein sollte, dann fächert sich ein religiöses Bekenntnis in der politischen Praxis zur Beliebigkeit auf. Die Konflikte werden häufiger. Während die ungarischen Bischöfe zur Migrationspolitik von Viktor Orban schweigen, treten die italienischen Oberhirten offen gegen den "Lega Nord"-Chef und Innenminister Matteo Salvini auf. Das Magazin "Famiglia Christiana" hat ihn, der gerne mit Rosenkranz Kirchen besucht, mit dem Teufel verglichen. Die "Lega" sei nicht christlich und daher auch nicht wählbar.

Noch wird auf politischer Seite die Entkoppelung von christlich und demokratisch nicht ins Spiel gebracht. Aber die Fakten in Polen und Ungarn sprechen für sich. Als christlich versteht sich die polnische Regierungspartei PiS mit ihren stark autoritären Zügen und antidemokratischen Maßnahmen. Als Teil seiner christlichen Politik betrachtet Viktor Orban nicht nur die Entmachtung der Gewaltenteilung, sondern auch sein jüngstes Nationalisierungsprogramm, das für original "ungarische Kinder" billige Kredite verheißt. In Deutschland haben

"Christlich-demokratische Union" und "Christlich-soziale Union" die Verflechtung der beiden Begriffe im Parteinamen stehen. Noch ist bei den Nachbarn keine offene Diskussion über die Frage der Entkoppelung ausgebrochen. Aber in Bayern ist die katholische Kirche zur CSU längst auf Distanz gegangen.