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Empirie statt Fantasie

Von Peter Markl

Wissen

Gelegentlich kann die Zuspitzung schon eine purgierende Wirkung haben. Droht eine Diskussion unter der ausufernden Fantasie der Diskussionsteilnehmer immer verblasener zu werden, ist es hilfreich, wenn eine Kennerin in drastischen Worten daran erinnert, worum es eigentlich geht. Diskussionen um weltanschaulich sensitive Themen sind besonders in Gefahr auszuufern - vor allem dann, wenn es um Themen geht, für deren Behandlung sich irgendeine Institution so sehr zuständig fühlt, dass alle ihre Funktionäre glauben, sie müssten sich zu allen Fragen äußern.


Die Feuilleton-Redakteure der "Frankfurter Allgemeinen" haben in den vergangenen Jahren ihre Seiten zum Marktplatz für Themen der Neurowissenschaften gemacht. Das war ein bemerkenswerter Versuch, den Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu fördern. Die Neurowissenschaftler beurteilen die Möglichkeiten, diesen Dialog zu führen, mittlerweile jedoch skeptisch. Das liegt nicht allein an dem Unbehagen, das sie bei der Lektüre der philosophischen Ausflüge ihrer Fachkollegen empfinden, sondern - häufiger - an den kritischen Beiträgen von Geisteswissenschaftlern, welche sich die Lektüre neuer neurowissenschaftlicher Arbeiten erspart haben.

Zu früh für Theorien

Patricia Churchland, Professorin für Philosophie an der Universität von Kalifornien in San Diego, hat nun angesichts der vielen Diskussionen um die Entstehung des Bewusstseins die Geduld verloren. Sie, die eine respektierte Diskussionspartnerin wichtiger Arbeitsgruppen auf den Gebieten der Neurophysiologe, der Computer- und Kognitionswissenschaften ist, hat ihrem Ärger plakativ Luft gemacht. In einem Aufsatz für die Zeitschrift "New Scientist" erinnert sie daran, dass man von einer Theorie des Bewusstseins noch sehr weit entfernt ist. Wenn ein Engel käme und einem Experten die fertige Theorie ins Ohr flüsterte, würde der wahrscheinlich nichts damit anfangen können. Er wäre nämlich mit Begriffen und Modellen konfrontiert, die er beim heutigen Stand der Diskussion noch gar nicht begreifen könnte.

Wer sich der Flut der zurzeit publizierten Bücher und Artikel ausgesetzt hat, wird wahrscheinlich einen ganz anderen Eindruck bekommen haben. Patricia Churchland stellt fest: "Fast jeder, der bei Bewusstsein ist, fühlt sich zur Zeit berufen, über Bewusstsein zu schreiben. Die meisten Autoren haben sogar so viel Vertrauen in ihre Ansichten gewonnen, dass sie ihre eigenen Beiträge kühn als eine Theorie des Bewusstseins vorstellen. Und da es jetzt davon immer mehr gibt, könnte man unschuldigerweise vermuten, dass etwas Neues entdeckt worden ist. Wahr ist jedoch das Gegenteil - man hat sehr wenig Neues ausfindig gemacht."

Churchland sieht in dieser seltsamen, hektischen Aktivität ein Analogon zur Situation am Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals erschien eine wahre Flut von Artikeln und Büchern über das "Wesen des Lebens", obwohl nur sehr wenige empirische Belege die Spekulationen in Sachen "elan vital" stützten oder spekulativen Wildwuchs einschränkten. Empirisch bewegte man sich sogar sehr viel später immer noch auf sehr unsicherem Terrain.

Churchland sieht darin eine gefährliche Versuchung: "Eine empirisch so weit offene Spielwiese motiviert die Autoren dazu, gegeneinander Schlammschlachten auszutragen, einander (wie im Reality-TV) von der Insel zu wählen und immer neue Blockschemata zu zeichnen, und deren Kästchen mit Pfeilen zu verbinden. Natürlich ist es ungleich leichter, sich auf eine introspektive Erkundigung ins eigene Innere zu begeben, als sich auf die peinlich sorgfältige Arbeit in den Neurowissenschaften einzulassen. Das Resultat von all dem ist, dass Legionen von Leuten, die sich als die kommenden Darwins des Bewusstseins sehen, auf Konferenzen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchen; während Philosophen, die der Anblick von Naturwissenschaftlern, die auf ihrem heiligen Gebiet herumtrotten, in Entsetzen versetzt, versuchen, die Eindringlinge mit extremen Drohungen abzuschrecken, in denen grimmig auf begriffliche Notwendigkeiten und logische Adäquatheitskriterien hingewiesen wird."

Eben diese Philosophen strapazieren Geduld und Nerven von Neurowissenschaftlern und neurowissenschaftlich informierten Diskussionsteilnehmern durch störrische Unbelehrbarkeit. Es gibt Denker, die sich, am Schreibtisch sitzend und ihren Intuitionen felsenfest vertrauend, davon überzeugt haben, dass Bewusstsein etwas "Jenseitiges" sei, und dass man nie herausfinden könne, wie es aus der Aktivität von Neuronen entstehe. Sie können sich das nicht vorstellen, und wollen auch keine Erklärung dafür haben. Colin McGinn, einer der prominentesten Vertreter dieser Richtung, vermutet, dass unser Hirn zum Verständnis seiner selbst so wenig ausreiche, wie das Hirn einer Maus dazu geeignet sei, die Quantentheorie zu verstehen. Alle Versuche in dieser Richtung würden daher notwendigerweise mit untauglichen Mitteln unternommen.

Nun beweist die Tatsache, dass sich jemand etwas nicht vorstellen kann, vor allem dessen Mangel an Vorstellungsvermögen. Daraus folgt nichts Interessantes. Es scheint aber - so Churchland - etwas Verführerisches darin zu liegen: "Trotzdem ist die Vorstellung allgegenwärtig, an dem Verdacht, hinter unserem Unvermögen sei etwas Tiefes, Metaphysisches oder sogar Radikales verborgen, könnte etwas dran sein. Vielleicht neigen wir dazu, in unserer Ignoranz auch etwas Positives zu sehen. Wenn wir, die wir doch so clever sind, keine Erklärung wissen, dann muss doch hinter der unerklärlichen Erscheinung eine Ehrfurcht erregende Komplexität stecken."

In Wahrheit ist die Problemsituation jedoch so ernüchternd wie trivial: Aus der Tatsache, dass man sich beim gegenwärtigen Stand des Wissens die Entstehung von Bewusstsein noch nicht erklären kann, folgt gar nichts über das Bewusstsein selbst.

Kein Gegenargument führt jedoch in Diskussionen so schnell zu resignierend fliehenden Neurophysiologen wie die Berufung auf "die Vorstellbarkeit von Zombies". Einige Philosophen haben sich eine kleine Show ausgedacht, gefüllt mit Monstren, die sie bei Bedarf immer wieder paradieren lassen.

Zombies sind (fiktive) Kreaturen, die in jeder vorstellbaren Hinsicht identisch sind mit normalen Menschen - sie sehen wie normale Menschen aus, geben Antworten wie sie und zeigen deren ganzes Verhaltensrepertoire. Von außen betrachtet hat man also schlechthin keine Chance, sie von normalen Menschen zu unterscheiden, obwohl sie alles andere sind als normal: Sie haben kein Bewusstsein und fühlen nichts - weder Schmerz noch Freude, Trauer oder Lust. Sie haben einfach keine Ahnung, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein.

"Logisch möglich"

Nun kann sich jeder Mensch eine ganze Menagerie von absonderlichen Kreaturen vorstellen - von 2-Tonnen-Mäusen bis zu Spinnen, die Flöte spielen. Wie daraus etwas über die Unmöglichkeit der Erklärung von Bewusstsein abzuleiten wäre, ist schleierhaft, doch gibt es Philosophen, die genau das versuchen. Ihrer Ansicht nach beweist die Vorstellbarkeit einer Sache auch deren logische Möglichkeit. Zombies sind vorstellbar und daher "logisch möglich". Zu diesem Schluss kann man kommen, ohne auch nur ein Wort über das Hirn oder das Bewusstsein zu verlieren. Daraus schließen diese Philosophen wiederum, dass das Bewusstsein - was immer es sein mag - durch die Beschreibung irgendeiner Hirnaktivität nicht erklärt werden kann. Was Erklärungen betrifft, sind diese Philosophen nicht kompromissbereit. Sie würden nur eine Erklärung akzeptieren, die die Existenz von Zombies logisch unmöglich macht.

Die meisten Neurowissenschaftler halten diese Art der Argumentation für verdrießliche Sophisterei, oder, wie es Karl Popper gelegentlich genannt hat, für "philosophisch im abträglichen Sinn des Wortes" . Auch Patricia Churchland ist der Ansicht, dass es nicht um die logischen Möglichkeiten gehen muss, sondern um die Möglichkeit der Existenz in der realen Welt: "Für mich zeigt das Zombie-Argument die Schwäche einer Klasse von Gedankenexperimenten, die Welten beschreiben, die von der realen Welt isoliert sind - obwohl man trotzdem hofft, aus ihnen naturwissenschaftlich relevante Schlüsse ziehen zu können. "

Trügerische Intuitionen

Oft gehen solche Überlegungen von Wahrheiten aus, die ihren Verkündern so offensichtlich erscheinen, dass an ihnen schlechthin nicht zu zweifeln ist. Dabei haben sich gerade solche "Intuitionen" im Lauf der Wissenschaftsgeschichte als trügerische erwiesen. Ist es nicht offensichtlich, dass der Raum dreidimensional ist? Hat nicht Kant, ein großer Philosoph und ein großer Naturwissenschaftler, gezeigt, dass wir gar nicht anders können, als einen dreidimensionalen Raum zu erleben, weil der dreidimensionale Raum als Vorbedingung für jede Raumerfahrung einfach eine logische und begriffliche Notwendigkeit ist? Seit Einstein sieht das niemand mehr so. Solche Analogien irritieren jedoch die Hardliner nicht, die es für ausgemacht halten, dass man nie eine wirkliche Theorie des Bewusstseins haben werde.

Manchmal gehen die entscheidenden Anstöße zum Umbau des theoretischen Rahmens von Problemen der Theorie aus, bei anderen Episoden der Wissenschaftsgeschichte aber sind es neue Untersuchungstechniken, welche alte Fragen unter die Kontrolle der Experimentatoren stellen. So waren es etwa neue Experimente mit unerwarteten Resultaten, welche - parallel zu theoretischen Überlegungen - Einstein veranlassten, Newtons Theorie von Raum und Zeit zu überdenken.

Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich zurzeit in den Neurowissenschaften. Es ist vor allem die Technik der funktionalen magnetischen Kernresonanz, welche es erlaubt, im Hirn die neuronalen Schaltkreise zu lokalisieren, deren Anregung mit der Lösung einer kognitiven Aufgabe einhergeht. Die Untersuchungstechniken werden ständig verbessert.

Um nur zwei Beispiele anzuführen: Ist es nicht ganz offensichtlich, dass wir niemals herausfinden können, was ein Tier, das weder reden noch schreiben kann, bewusst sieht? Larry Weiskrantz und Allan Cowey (Oxford) ist das gemeinsam mit Petra Störig von der Universität Düsseldorf schon vor zehn Jahren in einem raffiniert ausgeklügelten, ganz speziellen Experiment gelungen: sie konnten zeigen, welche visuellen Sinneseindrücke einem Makaken bewusst sind. Und erst vor drei Wochen hat ein japanisches Team von einer raffinierten Weiterentwicklung der funktionellen Kernresonanztechnik berichtet, die eine vordem exotisch scheinende Möglichkeit Realität werden ließ: Man kann jetzt nicht nur zeigen, wie das visuelle Sehsystem repräsentiert, was jemand vor Augen hat, sondern auch, wie das Gesehene subjektiv wahrgenommen wird.

Eine wichtige Lektion

Wenn die Geschichte der Naturwissenschaften etwas lehrt, dann - mit den Worten von Patricia Churchland - "eine wichtige Lektion, die den meisten Philosophen und vielen Neurowissenschaftlern entgangen zu sein scheint: nämlich, dass sich mit dem Wandel in der Wissenschaft auch das wandelt, was einmal offensichtlich zu sein schien. Mit der Weiterentwicklung der Wissenschaft entwickelt sich auch das begriffliche Instrumentarium und damit die Art, in der wir denken und die Welt sehen. Das gilt sowohl für die äußere wie für unsere innere Welt."

Deshalb stünde dem eingangs zitierten gütigen Engel eine Enttäuschung ins Haus: Wem auch immer er die Lösung des Problems von der Entstehung des Bewusstseins ins Ohr flüstern würde - mehr als blankes Unverständnis würde er wohl nicht hervorrufen.

Irritiert von der vorschnellen Theoriefreudigkeit so vieler ihrer Kollegen, hat Churchland jetzt - zusammen mit David Eagleman - ein Buch mit dem Titel "Zehn ungelöste Probleme der Neurowissenschaften" geschrieben, das die gewaltigen Lücken auf den Weg zu einer Theorie des Bewusstseins in Erinnerung rufen soll. Sie verkündet dabei eine nüchterne Botschaft: "Die ganz unglamouröse Wahrheit ist, dass die Wissenschaft die Komponenten des Bewusstseins etwa in der Art verstehen lernen wird, wie das auch beim Verständnis der Komponenten der Natur des Lebens der Fall war. Nicht durch eine einzelne, blendend strahlende Einsicht, sondern durch ein Verständnis der großen Masse der Details auf vielen Organisationsebenen: Molekülen, Zellen, neuronalen Netzen, Subsystemen - und dem ganzen System. Das heißt: Wir haben noch eine Menge langwieriger, harter, empirischer Arbeit vor uns, bevor wir irgendwem den Nobelpreis überreichen können."

Literatur

- Patricia Churchland: Brains wide shut? "New Scientist" vom 30. April 2005, Seiten 46-49.

- Yukiyasu Kamitani, Frank Tong: Decoding the visual and subjective contents of the human brain. "Nature Neuroscience", Online Veröffentlichung: 24. April 2005.