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Ein Land bremst sich aus

Von Jan Michael Marchart

Politik
© WZ-Illustration

Vor zehn Jahren schrieb Deutschland eine Schuldenbremse in die Verfassung. Hierzulande will man nachziehen.


Wien/Berlin. Vor fünf Jahren wurde in Deutschland ein weiteres Mal die Wende ausgerufen. Von einem "Meilenstein", von einer "historischen Zäsur", ja von einer "Zeitenwende" war die Rede. Damals wurde keine Mauer niedergerissen, kein Land nach Jahrzehnten wieder zusammengeführt. In Deutschland wurde bloß die "schwarze Null" geboren und mit ihr die symbolische Überhöhung budgetärer Überschüsse im Staatshaushalt. Deutsche Politiker fast aller Fraktionen überboten sich mit überschwänglichen Beschreibungen für die Geschichtsträchtigkeit des Ereignisses, obwohl die Null alleine keine ökonomische Bedeutung hat.

Die Zeitenwende hatte allerdings weit früher angefangen. Genauer im Jahr 2009. Damals hatte Deutschland im Zuge der Finanzkrise beschlossen, eine Schuldenbremse in die Verfassung zu schreiben, seit 2011 ist sie eine verbindliche Vorgabe. Seit 2014 hat der Bund keine neuen Schulden mehr gemacht. Die Schuldenbremse bekam einen religiösen Touch. Öffentlich infrage gestellt wurde sie kaum. Bis jetzt.

"So wie die Schuldenbremse ausgestaltet ist, ist sie ein Fehler", sagt der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. "Denn in guten Zeiten lässt sie zu viel Spielraum, in schlechten Zeiten zu wenig."

Aber auch Ökonomen wie Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die 2011 noch eine Schuldenbremse für alle Länder forderten, sparen nicht mit Kritik. Damals sei die Schuldenbremse sinnvoll gewesen, inzwischen habe sie ihren Zweck übererfüllt. In Zeiten niedriger Zinsen und hohen Investitionsbedarfs nehme sie der Politik die nötigen Spielräume. "Wir haben uns eingemauert", schreibt Hüther in einem Kommentar des Instituts. "Die Verteufelung der Schulden ist nicht mehr zeitgemäß."

Die Trendumkehr im deutschen Diskurs über die Schuldenbremse ist für Österreich deshalb interessant, weil diese laut dem Arbeitsprogramm der Regierung auch hierzulande Verfassungsrang bekommen soll. Die Neos, die auch eine Schuldenbremse fordern, wären der Hebel für die nötige Zweidrittelmehrheit im Nationalrat. Der Verfassungsrang hätte keinen ökonomischen, aber einen symbolischen Wert. Die Schuldenbremse könnte mit diesen Mehrheiten auch schwerer aufgelöst werden.

Der erste Versuch im Jahr 2011 unter der damals rot-schwarzen Regierung war an der Zwei-Drittel-Hürde gescheitert. Die Schuldenbremse fand nur Einzug ins Bundeshaushaltsgesetz. Der heimische Staatshaushalt (inklusive Sozialversicherung) darf seit 2017 ein strukturelles Defizit von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht übersteigen, Länder und Gemeinden müssen ausgeglichen bilanzieren.

Bei Rezessionen oder Naturkatastrophen kann sich der Staat stärker verschulden. 2017 betrug das Defizit des Bundes 0,5 Prozent, durch den Überschuss der Sozialversicherung (0,1 Prozent) dürfte Österreich laut Experten die Vorgabe annähernd eingehalten haben. So richtig weiß das aber niemand.

Leben von der Substanz

Deutschland und Österreich seien Länder mit einer moderaten Staatsverschuldung, sagt Fratzscher. Eine solch restriktive Regel sei nach der Finanzkrise richtig gewesen, vertretbar sei sie auch für Länder wie Italien, die weit über ihre Verhältnisse leben. Für solide Haushalte seien die Maastricht-Regeln, wonach das Staatsdefizit drei Prozent des BIP nicht überschreiten darf, ausreichend, wenn auch nicht ideal. Auch hier gebe es im Krisenfall zu wenig, in guten Zeiten zu viel Spielraum.

Deutschland darf bei "normaler" Konjunkturlage neue Schulden in maximaler Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufnehmen, für die Bundesländer ist eine Neuverschuldung ab 2020 gänzlich verboten. Zu Ende gedacht sorge dieser enge Gürtel dafür, dass Schulden komplett abgebaut werden, was auch daran erkennbar sei, dass Deutschland Überschüsse produziere. "Das ist nicht wünschenswert", sagt Fratzscher. "Man braucht Staatsschulden." Auch weil Staatsanleihen eine sichere Anlagemöglichkeit mit langfristiger Perspektive seien.

Ein riesiges Problem sei, dass es in der Diskussion um die Schuldenbremse nie um die Rolle des Staates gehe, sondern bloß darum, weniger oder gar keine Schulden mehr zu machen. "Das ist grundfalsch", so Fratzscher. Österreich solle überlegen, ob es nicht Bereiche gebe, für die der Staat Geld ausgeben sollte, was sich später rechnet. Das könne Bildung, Infrastruktur, sozialer Wohnbau, Forschung oder Entwicklung sein.

In Deutschland würden Schienen und Straßen verfallen. Viele Bundesländer hätten ihren sozialen Wohnbau bereits vor der Schuldenbremse verkauft, um andere Dinge zu finanzieren, "was sich heute übel rächt". Im "polis Magazin" lamentiert der Präsident des deutschen Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft (GdW), Axel Gedaschka, dass die Länder durch die Schuldenbremse die nötigen Mittel für den übrigen sozialen Wohnbau und dessen altersgerechte Sanierung alleine kaum aufstellen könnten. "Weniger Schulden sind nicht gut, wenn die Vermögen des Staates noch stärker abnehmen", so Fratzscher. Es bräuchte eine Investitionsregel, wonach der Staat "nicht von der Substanz leben darf, also öffentliches Vermögen verschachert oder verfallen lässt".

Der Kölner Ökonom Hüther möchte die Schuldenbremse ebenso öffnen, ohne die "mühsam etablierte Disziplin zu opfern". Es brauche klar definierte Spielräume für notwendige Investitionen, etwa im Bereich der künstlichen Intelligenz. "Wir sind mitten in einem technologischen Sprung und drohen wegen der Schuldenbremse den Anschluss zu verlieren."

"Tragfähigkeit ist essenziell"

Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Lars Feld ist einer der strikten Verfechter für eine Schuldenbremse. An der deutschen Version hat er mitgearbeitet. Seit 1994 beschäftigt sich Feld mit der Verschuldung in unterschiedlichen demokratischen Regimen. Er sieht keine Probleme mit den öffentlichen Investitionen seit der Einführung der Schuldenbremse. "Die sind viel früher zurückgegangen", sagt Feld. Konkret seit 1995 laut deutschem Finanzministerium. 2006 stiegen die öffentlichen Investitionen leicht an, seit der zweiten Jahreshälfte 2009, in dem Jahr, in dem die Schuldenbremse eingeführt wurde, sinken sie wieder.

In der Debatte werde aber nicht trennscharf unterschieden, sagt Feld. Die Bahn sei in Deutschland ein Unternehmen privaten Rechts. Daher werden dortige Investitionen etwa in Schienen im privaten Bereich verbucht und nicht im öffentlichen. So verhält es sich auch mit Einrichtungen der Daseinsvorsorge, die privatisiert wurden. Weil der Investitionsbegriff zu dehnbar sei, "Trumps Mauer wäre nach deutschem Recht eine öffentliche Investition", lehnt Feld einen Investitionshebel innerhalb der Schuldenbremse ab.

Gerade in der Europäischen Währungsunion müsse man aufpassen, wie dynamisch die Schuldenquote im Zeitablauf steige und was das aus Sicht der Finanzmärkte bedeute. Es gebe zwei Länder, die sich einen höheren Schuldenstand leisten könnten. Die USA, weil sie "die Weltreservewährung stellt" und die dortige Notenbank im Zweifel als Kreditgeber letzter Instanz für den Bundesstaat einspringe. Und Japan, das zu mehr als 90 Prozent im Inland verschuldet sei und sich daher nicht so sehr um die Meinung der internationalen Finanzmärkte kümmern müsse.

Der Euro sei keine Weltreservewährung, sondern stehe mit deutlichem Abstand zum Dollar auf Platz zwei. Die nationalen Schuldenstände seien auch nicht von der Europäischen Zentralbank abgesichert, und viele Länder in Europa seien im Ausland verschuldet. "Daher ist die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen essenziell", sagt Feld. Die demografische Entwicklung sei auch in Österreich nicht allzu günstig und werde auf der Ausgabenseite Druck machen. Eine nationale Schuldenbremse sei wichtig, um solide Finanzen sicherzustellen.

"Verschuldung suggeriert die Illusion, dass die Politik alles Mögliche, Steuersenkungen oder Ausgabenerhöhungen, ohne Zielkonflikte realisieren kann", sagt Feld. Das sei aber nicht so. Es sei Aufgabe der Politik, Prioritäten zu setzen. "Es soll mir kein Finanzminister erzählen, dass es im Budget keine Spielräume gibt."

Eine Frage der Kultur

Für Martin Kocher, Chef des Instituts für Höhere Studien, ist es schwer, in dieser umkämpften Debatte eine klare Antwort zu finden. "Ich gehe davon aus, dass die Schuldenbremse öffentliche Investitionen gehemmt hat", sagt er. "Aber das empirisch zu beweisen, ist schwierig." Die Schuldenbremse nehme in schwierigen Zeiten zweifelsfrei Spielraum ein. Die Frage sei, ob sich die Staaten im Krisenfall an die Vorgaben halten. Die Kosten für die Flüchtlingskrise wurden 2016 und 2017 aus dem strukturellen Defizit herausgerechnet, weshalb Österreich die Defizitvorgaben der EU annähernd einhalten konnte. In Kärnten sei auch zu sehen gewesen, "wie viel der Bund übernimmt, wenn die Bundesländer in Schwierigkeiten geraten".

Dass Österreich das Gesetz ein Stück lockerer nimmt, könnte ein Unterschied zu Deutschland sein, glaubt Kocher. "Es ist auch eine Kulturfrage." Wobei im Nachbarland noch kein Verstoß gegen die Schuldenbremse bekannt ist, sagt Kocher. Wie hart Deutschland bremst, steht also noch aus.

Die österreichische Lösung reiche im Moment, sagt Kocher. Ob die Schuldenbremse in der Verfassung stehe, spiele keine Rolle. Restriktiver werde sie nur durch Strafen für die Politik. Mehr als eine öffentliche Desavouierung sei da aber wohl nicht drinnen.