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Mitterlehner: "Dankbarkeit kann man nicht erwarten"

Von Jan Michael Marchart und Simon Rosner

Politik
"Ich finde, dass die Koalition damals eine echte Bewährungsprobe abgelegthat. Österreich wurde von Experten und der EU gelobt. Mittlerweile sindden Wählern andere Themen wichtiger. Dankbarkeit kann man nicht erwarten." Reinhold Mitterlehner im Gespräch mit der WZ.
© Moritz Ziegler

Ein Gespräch mit Ex-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner über Krisenzeiten und sich ändernde Haltungen.


Drei Jahre war Reinhold Mitterlehner Obmann der ÖVP. Er saß für die Volkspartei im Nationalrat, war Wirtschaftsminister und schließlich, ab 2014 als Parteichef, Vizekanzler. Über sein konfliktreiches Verhältnis mit Nachfolger Sebastian Kurz schrieb er nun ein Buch ("Haltung: Flagge zeigen in Leben und Politik", Ecowin), das bereits in die dritte Auflage geht. Mitterlehner war sowohl während der Wirtschaftskrise als auch 2015 bei der Fluchtkrise Teil der Regierung. Die "Wiener Zeitung" hat Mitterlehner vor allem zu diesen innenpolitischen Zäsuren befragt.

"Wiener Zeitung": Sie bezeichnen die ÖVP in Ihrem Buch als NVP für "Neue Volkspartei". Kein Medium tut dies. Warum?

Reinhold Mitterlehner: Die Partei bezeichnet sich ja selber so, und das ist eben die Abkürzung. Ich wollte damit unterstreichen, dass ich mich der ÖVP im ursprünglichen Sinne zugehörig fühle. Die Buchpräsentation war auch nicht zufällig am 17. April, dem Gründungstag der ÖVP. Die Partei hat aber eine Entwicklung in der Regierung vollzogen. Wenn ich die Regierungspolitik gesellschaftspolitisch bewerte, entwickeln wir uns von einer offenen, pluralistischen Gesellschaft hin zu einer ausgrenzenden, geschlossenen Gesellschaft.

Den Diskurs gibt es aber schon länger, die FPÖ betreibt ihn nicht erst seit gestern.

Das hat sich in der neuen Regierung verschärft. Da werden Feindbilder geschürt. Flüchtlinge müssen bei jeder Gesetzesänderung, wie nun bei der Mindestsicherung, aber auch für Bezeichnungen herhalten, indem aus Aufnahmezentren Ausreisezentren werden. Auch jetzt im EU-Wahlkampf dominiert das Asylthema, obwohl nur 39.000 Menschen in der Grundversorgung sind.

Ist diese NVP für Sie noch eine Volkspartei im eigentlichen Sinn?

Das alte Parteimuster stimmt generell nicht mehr. Es ist nicht zufällig, dass in ganz Europa die Volksparteien in der Nachkriegsphase gegründet worden. Es ging darum, das Land funktionsfähig zu machen. Da brauche ich alle Teile der Gesellschaft. Heute haben wir eine pluralistische Gesellschaft mit lauter unterschiedlichen Entwicklungen. Daher ist die Zuordnung von Interessen nicht mehr so leicht möglich. Und deswegen wird die Parteilandschaft generell vielfältiger.

Sie beschreiben immer wieder diese Aushandlungsprozesse, sowohl innerparteilich als auch mit der SPÖ, vor allem bei der Finanzkrise. Hat damals die Große Koalition das letzte Mal gut funktioniert?

Ich finde, dass die Koalition damals eine echte Bewährungsprobe abgelegt hat. Österreich wurde von Experten und der EU gelobt. Mittlerweile sind den Wählern andere Themen wichtiger. Dankbarkeit kann man nicht erwarten.

Worauf wir hinauswollen: Braucht eine Große Koalition die großen Themen, damit sie funktioniert?

Da ist etwas Wahres dran. Bei großen Themen muss man die gesamte Bevölkerung mitnehmen und kann nicht singuläre Interessen durchbringen, und der Rest bleibt dann über. Es ist auch bei der jetzigen Regierung eine Gefahr, dass da zwei ziemlich ähnliche Partner sind. Die sind sich schnell einig, aber ein gewisser Teil der Bevölkerung bleibt übrig. Das ist ein genereller Unterschied zu vorher.

Sie sind unmittelbar zur Finanzkrise Minister geworden. Wann hat man damals um den Ernst der Lage gewusst? Mit der Lehman-Pleite?

Nein. Lehman war am 15. September 2008, und noch am 24. September gab es im Nationalrat die "lange Nacht der Politik", in der wir drei Milliarden Euro an Dauerbelastungen beschlossen haben, als gebe es kein Morgen. (Vor der Nationalratswahl war es zu einem freien Spiel der Kräfte mit etlichen budgetrelevanten Beschlüssen gekommen, Anm.)

Sehr bald danach war es aber klar, wie heikel die Lage ist, oder?

Ja, und damals haben wir auch das Richtige gemacht. Wir haben keine Panik bei den Sparern aufkommen lassen, und wir haben auch Arbeitsplätze durch Konjunkturmaßnahmen abgesichert. Wir hatten damals 20 Prozent Auftragsbestand bei Industriebetrieben, einen totalen Einbruch der Exporte, Finanzierungsprobleme mit den Banken und standen knapp davor, dass das Land große Probleme hat. Wir haben damals 14 Milliarden Euro bewegt, das hat man heute vergessen. Aber nach dem alten Keynes (John Maynard Keynes, Anm.), der ja nicht unrecht gehabt hat, muss das wieder refinanziert werden. Und diese Refinanzierung haben wir nie getätigt, weil die Konjunktur nie wirklich angesprungen ist.

Sie haben selbst im Buch auf die zwei Optionen in solchen Krisen verwiesen: Den freien Markt wirken lassen, das hieße Anpassung. Oder eben staatliche Investitionen, also Keynes. Österreich hat sich für Keynes entschieden. Aber ist es nicht dennoch zu ganz massiven Anpassungen gekommen, vor allem, wenn man den Arbeitsmarkt der folgenden Jahre betrachtet?

Darum war es nicht Keynes in Reinkultur. Firmen haben sich natürlich umstrukturiert und sich effizienter ausgerichtet. Das hat man auf dem Arbeitsmarkt gespürt, weil die Beschäftigung zwar gestiegen ist, aber durch die Umstrukturierung sind Leute übrig geblieben. Aber der Prozess war trotzdem richtig und einigermaßen sozial verträglich, und die Wirtschaft ist jetzt konkurrenzfähiger als vorher.

Sie schreiben von etlichen Treffen in der Krisenzeit mit Vertretern großer Unternehmen. Die Einbrüche waren bedrohlich, aber die Umsätze, Gewinne und Exporte haben sich rasch wieder erholt. Die Arbeitslosigkeit über Jahre nicht. Gibt es da eine Schieflage? Sind solche Betriebe auch "too big to fail"?

Das sprechen Sie jetzt zwei Probleme an. Sie haben recht, als Staat kann ich auf große Leitbetriebe nicht verzichten. Ich habe als junger Student eine Arbeit geschrieben, wie viele Zulieferbetriebe in Oberösterreich an der Voest hängen. Das waren damals 800. Da ist das Wohl und Weh einer Region davon abhängig. Ich finde es daher richtig, Leitbetriebe zu unterstützen, so weit das geht. Das zweite Problem: Viele der Manager waren vor der Krise der Meinung, den Staat brauche es nicht. Dann brauchte man sehr wohl und schnell öffentliche Haftungen. Wer hat von der Krise profitiert? Das ist eine gesellschaftspolitisch relevante Frage. Vielleicht stärker die Unternehmen. Das ist dann auch Gegenstand von Lohnverhandlungen. Am Anfang war die Arbeitnehmerseite zurückhaltend, weil sie die Wirtschaft stimulieren wollten. Zuletzt hat man den Spieß aber umgedreht und höhere Abschlüsse nicht nur gefordert, sondern auch erzielt.

Die Verhandlungen werden aber härter und unerbittlicher.

Das ist logisch. Die Arbeitnehmerseite rechnen ja, sie sehen die großen Gewinne der Betriebe. Wobei man auch sagen muss: Mit den Gewinnen fahren die wenigsten Eigentümer in die Karibik, sondern sie reinvestieren in die Betriebe.

Kommen wir zur zweiten Krise, der Fluchtkrise. Sie beschreiben kritisch, wie Österreich damals für zigtausende Flüchtlinge die Grenzen geöffnet hat. Welche Handlungsoptionen gab es, als Tausende zu Fuß aus Ungarn kamen?

Null. Sie können das ja nicht mit Gewalt verhindern. Das ist unmöglich.

Aber Warnungen, dass es eine große Fluchtwelle geben wird, waren weit früher da. Warum hat sich Österreich nicht auf ein geordnetes Resettlement eingelassen?

Weil Österreich schon damals überdurchschnittlich viele Flüchtlinge aufgenommen hatte.

Aber wie konnte Europa das passieren, dass es trotz Warnungen und Beschlüssen der EU-Kommission kein Resettlement gab?

Wegen einer sehr egoistischen Einschätzung der Staaten. Wir haben auch die Fernsehbilder von den Menschen gesehen, die über das Mittelmeer nach Italien gekommen sind. Wir haben gesehen, welche Probleme Italien hat, haben sie aber Italien überlassen. Die Solidarität war bei uns erst ein Thema, als wir gemerkt haben, das bleibt nicht nur in Deutschland hängen, sondern das kommt auch zu uns. Ich bin auch der Meinung, dass man seine Grenzen nicht bedingungslos öffnen kann, weil man sonst als Staat seine Identität verliert. Es muss ein Mittelweg sein. Das Pendel ist dann aber in eine vollkommen andere Richtung ausgeschlagen, und dort stehen wir jetzt.

Sie haben zuletzt die ,Verrohung der Worte‘ angesprochen: Aber als Vizekanzler haben Sie selbst von "Asyl á la carte" gesprochen, wie es später von der FPÖ verwendet wurde. Und auch von der "Festung Europa" haben Sie gesprochen.

Meine Diktion und Einschätzung hat sich seit 2015 verändert, weil sich die Problemlage verändert hat. Mit ,Festung Europa‘ war die Kontrolle der Außengrenze gemeint.

Heute bezeichnen Sie auch den 1,50-Lohn für Flüchtlinge als "menschenverachtend". Damals haben Sie die Forderung von Sebastian Kurz nach "Ein-Euro-Jobs" unterstützt. Wie passt das zusammen?

Das habe ich damals unterstützt, um die Partei als Einheit erscheinen zu lassen. Ich habe vieles mitgetragen, das ich heute nicht schön- , aber auch nicht schlechtreden möchte.

Nun war die ÖVP immer eine schwierige Partei, mit vielen unterschiedlichen Interessen. Als ÖAAB-Chefin hatte Johanna Mikl-Leitner einst "Her mit dem Zaster" gerufen, obwohl sie gleichzeitig Ministerin war und die ÖVP eine Steuerreform damals nicht so dringend wollte.

Ja, diese Unterscheidung haben wir leider nie getroffen. Aber es absolut nicht förderlich, wenn ein bündischer Obmann gleichzeitig Minister ist.

Aber jetzt gibt’s diese Probleme nicht. August Wöginger ist Klubchef und ÖAAB-Obmann. Trotz 12-Stunden-Arbeitstag war kein besonders großer Widerstand zu vernehmen.

Das wird offensichtlich schon zu einem internen Problem, wie sich die ÖVP in diesem Bereich aufstellt. Aber ich gebe da keine Empfehlungen.

Sebastian Kurz hatte kurz, nachdem Sie Minister wurden, die JVP übernommen. Damals war diese heillos zerstritten. Kurz danach war sie aber geeint und ein Machtfaktor in der ÖVP. Kann Kurz diese Interessen einfach gut moderieren?

Sie haben aus dem Buch sicher nicht ableiten können, dass ich ihm die Fähigkeiten abspreche, vor allem im machttaktischen und im koordinierenden Bereich. Sein Auftreten ist ja auch durchaus mit einem gewissen Charisma verbunden, sonst hätte er diesen Wahlerfolg nicht gehabt. Die Frage ist nur, wie treten wir den gesellschaftlichen Ausgrenzungen entgegen, die derzeit stattfindet.•