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Claudia Gamon: "Ein bisserl mehr Europa ist keine Vision"

Von Simon Rosner

Politik
Claudia Gamon soll neue Chefin der Neos in Vorarlberg werden.
© Moritz Ziegler

Von allen Parteien wollen die Neos am meisten EU: Spitzenkandidatin Gamon über ihre Idee der Vereinigten Staaten von Europa - von gemeinsamer Armee bis zur europaweiten Sozialpartnerschaft.


Claudia Gamon ist mit ihren 30 Jahren die jüngste Spitzenkandidatin bei der EU-Wahl. Sie kandidierte bereits 2013 bei der Wahl zum Nationalrat für die Neos und zog zwei Jahre später in diesen ein, nachdem die heutige pinke Parteichefin Beate Meinl-Reisinger nach Wien wechselte. Gamon kommt aus Vorarlberg, sie studierte Betriebswirtschaft in Wien.

"Wiener Zeitung": Liest man Interviews mit dem scheidenden Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, bekommt man den Eindruck, die EU befindet sich in einer tiefen Identitätskrise. Hat er recht?

Claudia Gamon: Die europäische Identität ist schon da. Aber früher gab es einen Prozess der Weiterentwicklung. Europa ist politisch aber stehen geblieben. Jetzt ist man an einem Punkt, an dem das System der Entscheidungsfindungen nicht mehr passt. Das schmerzhafte Beispiel: das Nicht-Zustandekommen der Digitalsteuer auf europäischer Ebene.

Es geht diesmal ums Grundsätzliche. Mehr oder weniger EU.

Das ist zu verknappt. Viele Populisten sagen: ,Wir wollen Europa, aber ein anderes". Aber sie geben keine Antwort, welches.

Also: Wohin geht’s für die Neos?

Wir wollen Vereinigte Staaten von Europa. Dafür brauchen wir einen Verfassungskonvent. Aber der muss diesmal anders laufen, und zwar mit einer starken Mitbestimmung. Meine persönliche Erfahrung im Wahlkampf ist, dass die Leute sehr europäisch denken. Über Details kann man streiten, aber ohne Vision treten wir auf der Stelle. Konservative und Sozialdemokraten sagen: Ein bisserl mehr wäre fein, ein bisserl Einstimmigkeit abschaffen, ein bisserl mehr Freiheiten, ein bisserl mehr Europa. Aber das ist keine Vision.

Es gibt sieben Parteien mit realistischen Chancen auf Mandate. Wer weniger EU will, bis hin zum Austritt, hat eine Option. Wer mehr will sechs. Ist das ein Problem?

Wir haben uns natürlich darüber Gedanken gemacht, wie man damit umgeht, dass es ein großes pro-europäisches Lager gibt. Unser Alleinstellungsmerkmal ist, dass wir nicht drum herumreden. Inhaltlich stimmen mir ja viele Konkurrenten zu. Aber wenn ich frage: Können wir es Vereinigte Staaten von Europa nennen? Können wir sagen, dass es eine EU-Staatsbürgerschaft geben soll? Können wir sagen, dass es eine EU-Armee geben soll? Dann heißt es: Das ist schwierig. Und das ärgert mich, weil es unehrlich ist.

Eine EU-Armee fordern tatsächlich nur die Neos. Ist das Strategie, weil man damit sagen kann: Wir Neos wollen am meisten EU?

Mit der Aussage kann ich leben.

Machen wir das konkret: Irgendwann am Nationalfeiertag: Stehen dann französische und polnische Soldaten am Heldenplatz und werden angelobt?

Why not? Aber es kann auch sein, dass österreichische Soldaten die Europa-Hymne singen. Aber ich möchte keine Vision mit den Bedingungen von heute bewerten. Es wird sich weiterentwickeln.

Aber das Heer ist doch ein bedeutendes Identifikationsobjekt.

Die Vereinigten Staaten von Europa werden dann passieren, wenn man die nationalen Symbole nicht wegnimmt, sondern etwas Zusätzliches schafft. Symbole sind ja wichtig, aber man muss auch europäische schaffen. (Das Interview wurde vor Gamons Forderung im ORF nach einem europäischen Feiertag geführt, Anm.)

In den 80er-Jahren war es wohl auch undenkbar, dass es Schilling und D-Mark einmal nicht mehr geben wird. Irgendwann konnte man sich das vorstellen, und dann wurde es Realität. Ist das auch der Weg für die EU-Armee?

Genau. Mich ärgert es, wenn es immer heißt, das sei alles unrealistisch. In einer Zeitreise durch die Geschichte der EU wurde das oft gesagt. Man denke nur an den Schuman-Plan gleich am Beginn! Das waren undenkbare Schritte, aber man hat sie gemacht. Das hat Europa immer ausgemacht.

Aber braucht es da nicht auch eine begleitende Entwicklung abseits von zum Beispiel einer gemeinsamen Beschaffung für das Heer, wie das die Neos skizzieren?

Deshalb braucht es auch eine Stärkung der europäischen Demokratie. Man sollte die Kommissionspräsidentin direkt wählen können, das ist eine wichtige Identifikationsfigur. Es fehlt auch an einer europäischen Medienöffentlichkeit, an Themen, die wir gemeinsam diskutieren.

Aber eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, eine Sozialunion, wollen die Neos nicht. Wäre das nicht auch ein logischer Bestandteil einer europäischen Integration, an deren Ende einmal die Vereinigten Staaten von Europa stehen?

Was ist in der Sozialpolitik das Ziel? Das war immer die Angleichung der Lebensstandards. Das Instrument dafür war die Regionalpolitik, das hat aber nicht funktioniert. Natürlich wären die Vereinigten Staaten ein föderaler Bundesstaat, in dem das Subsidiaritätsprinzip gilt. Die Dinge sollen auf der niedrigsten Ebene erledigt werden. Wozu wir stehen, sind Mindeststandards in Sozialfragen.

Aber angenommen ein Ungar aus Hegyeshalom arbeitet in Österreich. Wenn der Betrieb schließt, erhält er weniger Arbeitslosengeld als sein Kollege aus Neusiedl. Wie kann es einen Weg zu Vereinigten Staaten geben, wenn es da eine ungleiche Behandlung gibt?

Das stimmt. Die neue Familienbeihilfe ist auch ein Beispiel dafür. Ein ungarischer Kellner, der in Westösterreich arbeitet, zahlt die gleichen Beträge wie ein österreichischer Kellner, aber er erhält weniger Familienbeihilfe. Was leistet also Europa für ihn? Es leistet ein Vertragsverletzungsverfahren. Und diese Regelung wird hundertprozentig fallen, weil sie EU-rechtswidrig ist.

Aber wo ist der Unterschied zum Arbeitslosengeld. Da gibt es auch eine Indexierung?

Er hat Anspruch auf das österreichische Arbeitslosengeld.

Aber nur, wenn er in Österreich bleibt und hier um Arbeit sucht. Nicht in Hegyeshalom.

Dann nehme ich einen anderen Punkt: Was könnte hier Europa leisten? Die Antwort wäre die Etablierung einer europäischen Sozialversicherungsnummer. Man erhält damit den Schlüssel, jegliche Ansprüche, die man erarbeitet hat, in Anspruch zu nehmen, egal wo man ist.

Die EU wird, von Linken wie Rechten, als Elitenprojekt verhöhnt. So gibt es Freizügigkeit für Arbeitnehmer und Kapital, aber zum Beispiel nicht für Arme. Auch von Erasmus profitieren Studenten, für Lehrlinge gibt es das nur im kleinen Umfang.

Es stimmt schon, die Mobilität ist für viele eine rein theoretische Möglichkeit. Aber woher kommt das? Da würde ich eine Verantwortung bei der Sozialdemokratie sehen, die immer sehr protektionistisch war. Sie sagt, es sollen nicht alle kommen und arbeiten, aber dafür geben wir euch den europäischen Mindestlohn. Wir sehen ja das österreichische Modell mit Kollektivvertragsverhandlungen und der Tarifverhandlungsmacht bei den Sozialpartnern als gutes Modell, weil es eher dazu führt, dass es höhere Löhne gibt. Ich würde mir das für ganz Europa wünschen.

Aber was ist die Grundidee der Neos, um Verlierer der europäischen Integration zu entschädigen?

Vieles, das in der europäischen Sozialpolitik gefordert wird, ist ein Abstoßen der Verantwortung. Die EU kann nicht alles lösen, was die nationale Politik nicht löst.

Aber man kann ja auch nicht die europäische Integration fördern, und wenn es Probleme gibt, müssen sich dann die einzelnen Staaten drum kümmern, oder?

Nein, aber es wird sich vieles mit der Zeit ändern. Ich kann heute nicht sagen, wie der Arbeitsmarkt in 20 Jahren aussehen wird. Und wer heute behauptet, er könne ein Sozialsystem für die nächsten 20 Jahre bauen, soll Investmentbanker werden. Was man heute bauen kann, ist nachhaltiges Wachstum. Wir brauchen Wettbewerbsfähigkeit gepaart mit Reformen in der EU-Politik. Nur wenn die Politik entscheidungsfähig ist, können auch gute Entscheidungen in der Sozialpolitik getroffen werden. Wenn wir die Einstimmigkeit nicht abschaffen, wäre das ein Hindernis.

Ist eine Abschaffung realistisch?

In ein, zwei Bereichen schon. Die Kommission hat das in sozialpolitischen Fragen vorgeschlagen. Ich glaube, da wird sich was tun. Vermutlich mithilfe der Liberalen.

Die Neos streben zwei Mandate an, aber natürlich geht es ums Gesamte. Die liberale Fraktion Alde hält derzeit bei 69 Mandaten. Mit Macron könnte es dreistellig werden. Aber der zögerte zuletzt. Wie sieht es da aus?

Alle nationalen Parteien sind jetzt mit dem eigenen Wahlkampf beschäftigt. Man wird das ein, zwei Wochen nach der Wahl entscheiden. Aber ich bin ziemlich sicher, dass wir in einer Fraktion mit Macron sein werden.