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Die Grenzen des Grundrechts

Von Simon Rosner

Politik
Obdachlose EU-Bürger werden immer häufiger abgeschoben, auch wenn sie erst wenige Wochen hier sind. "Im Zweifel werden die Leute ausgewiesen", sagt eine Vertreterin der "Bettellobby".
© Simon Rosner

Die freie Wahl des Wohnortes für alle Europäer? Wer zu wenige Mittel hat, für den gilt dieses EU-Grundrecht nicht. In Österreich wird nun rigoros gegen EU-Bürger ohne Wohnsitz vorgegangen. Die Folge: ein Ping-Pong-Spiel mit Armen.


Wien. Vor dem Wiener Westbahnhof steht mitten zwischen den Schienen eine Art Gedenkstein. Auf ihm ist zu lesen, dass dieser Platz, der eigentlich gar kein Platz, sondern ein Verkehrszustand ist, vor 60 Jahren zum Europaplatz wurde - als "Bekenntnis zur Idee der Einheit Europas". Es mag schon damals schönere Plätze für die Ehrung einer hehren Idee gegeben haben, aber passendere vermutlich nicht.

Denn hier, am Westbahnhof, kam Europa an, Franzosen, Deutschen, Belgier und Schweizer, die Wien besuchten. Und von hier fuhr man auch weg, um Europa zu sehen. Ein damals ganz neues Europa. Nur ein Jahr vor der Umbenennung des Platzes waren die Römischen Verträge unterzeichnet und damit die Europäische Gemeinschaft begründet worden.

Aus der EWG ist längst die EU geworden, die Europäische Union. Die "Idee der Einheit Europas" ist zumindest in dem Sinn Realität geworden, dass die Grenzen im Schengen-Raum gefallen sind, Waren, Kapital und Dienstleistungen zwischen mittlerweile 28 Mitgliedsstaaten frei transferiert werden, und auch die vierte Grundfreiheit, die Personenfreizügigkeit, ist seit 1993 festgeschrieben. Und genau hier, am Europaplatz, begann diese auch für all jene, die am Westbahnhof ankamen, um in Wien zu studieren, zu arbeiten, zu leben.

3200 Personen nutzten 2017/18 das Winterpaket

Heute gelangt man vom Westbahnhof nur mehr nach Pressbaum, St. Pölten oder Attnang-Puchheim. International ist der Bahnhof, trotz großer Sanierung, nicht mehr angebunden. Dafür hat der Europaplatz eine andere Bedeutung bekommen. Denn hier, zwischen den vielen Autos, Schienen und Verkehrsinseln, und in unmittelbarer Nähe des Gedenksteins, der an die "Idee der Einheit Europas" gemahnt, endet für so manche das Versprechen der europäischen Personenfreizügigkeit. Denn die hat ihre Grenzen.

© Wiener Zeitung, Moritz Ziegler

Der Europaplatz ist einer jener Orte Wiens, an denen Obdach- und Wohnungslose ihre Zeit verbringen, auf Bänken sitzen, trinken, plaudern. Aus diversen Gründen eignet sich die unmittelbare Nähe zu Bahnhöfen dafür, das ist überall so, nicht nur in Wien. Dass es mehr Obdachlose geworden sind, ist offensichtlich, genaue Zahlen gibt es aber nicht.

Was bekannt ist: Im Winter 2017/18 wurde das Winterpaket der Stadt, das sind provisorische Notschlafstellen und Wärmestuben, von insgesamt 3200 Personen genutzt (aktuellere Zahlen gibt es noch nicht). Der Großteil ist ausländischer Herkunft, vor allem aus dem EU-Ausland. Es sind also Unionsbürger. Doch für sie gilt die Freizügigkeit nicht. Dabei wird diese häufig, wie jetzt im EU-Wahlkampf, als "unverrückbare Säule" der EU bezeichnet.

Freizügigkeit unterliegt starken Einschränkungen

In der entsprechenden Richtlinie der EU wurde die Freizügigkeit explizit eingeschränkt, um Armutsmigration innerhalb der EU zu unterbinden. Die Richtlinie schreibt eine Dauer von drei Monaten vor, in der "ohne jegliche Bedingungen oder Formalitäten außer der Pflicht, im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses zu sein" der Aufenthalt ermöglicht werden muss.

Nach diesen drei Monaten ist in Österreich eine Anmeldebescheinigung nötig, die aber ihrerseits an Bedingungen geknüpft ist. Etwas verkürzt: Man muss arbeiten oder studieren und über ausreichende Existenzmittel verfügen. Und daran scheitern einige. Sie sind dann gewissermaßen illegal und könnten jederzeit ausgewiesen werden. Dass damit Armutsmigration reduziert wird, ist zwar wahrscheinlich. Dass sie dadurch aber unterbunden wird, ist offensichtlich nicht der Fall.

Die einzelnen Fälle sind dabei sehr individuell. Menschen kommen, um hier Arbeit zu suchen, sie haben ja drei Monate dafür Zeit. Dann finden sie doch keine Arbeit oder nur eine kurze, bleiben aber trotzdem. Oder sie jobben freiberuflich, verdienen aber weniger als vorgeschrieben. Oder sie verlieren aus gesundheitlichen Gründen den Job und damit auch die Wohnung. Oder sie entwickeln ein Suchtproblem. Oder. Oder. Oder. Der Weg in die Wohnungs- oder Obdachlosigkeit ist vielschichtig. Wichtig ist auch: Es fehlt in der Fremde oftmals ein soziales Umfeld, das Erste Hilfe bieten kann. Zudem ist der Zugang zur staatlichen Wohlfahrt stark eingeschränkt. Das sind Umstände, die einen rascheren und tieferen Absturz begünstigen.

Die Theorie der Freizügigkeit, so wie sie festgeschrieben wurde, ist das eine. Sie definiert und beschränkt auf 47 Seiten dieses Grundrecht, damit es für Mittel- und Arbeitslose keine Gültigkeit hat. Der Europaplatz, der Praterstern und andere öffentliche Orte, Sozialeinrichtungen, Wärmestuben - das ist dann die Praxis.

Auf lokaler Ebene ein beherrschendes Thema

In absoluten Zahlen und von Brüssel aus betrachtet mag das Problem recht unbedeutend erscheinen. Es geht um paar hundert Menschen in Österreich. Tatsächlich spielt es auf lokaler Ebene eine politisch bedeutsame Rolle. Einige Dutzend Bettler haben Politiker in einigen österreichischen Städten dazu bewogen, Bettelverbote zu beschließen, die später vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurden. In Wien war wochenlang der Praterstern ein (boulevard)mediales Thema, bis die Stadt einen Alkoholbann verhängte.

Noch heute ist die Polizei jeden Tag fast durchgehend am Praterstern präsent, und zwar mit diversen Organisationseinheiten inklusive Diensthunden. Sieben Mal pro Monat gibt es Planquadrate. Wie oft es dabei zu Personenkontrollen und Identitätsfeststellungen kommt, kann die Polizei auf Anfrage "nicht seriös beantworten", da eben viele verschiedene Einheiten vor Ort sind.

Dass es jedenfalls seit Monaten zu vermehrten Kontrollen kommt, wird aber so gut wie von allen von der "Wiener Zeitung" kontaktierten NGOs, die in der Obdachlosenhilfe tätig sind, bestätigt. "In dieser Dimension gab es das noch nie", sagt ein Sozialarbeiter, der namentlich nicht genannt werden will. Belegt wird das aber auch durch Zahlen aus dem Innenministerium.

BILD zu OTS - Filmstill von ÇZu ebener ErdeÈ by Stadtkino
© Stadtkino

In den Jahren 2016 und 2017 wurden jeweils rund 1400 EU-Bürger abgeschoben. Im Vorjahr kletterte diese Zahl auf 2100. Das entspricht einem Plus von 48 Prozent. Bei Abschiebungen von Drittstaatsangehörigen in deren Heimatland ist unter Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) ein ähnlicher Anstieg zu verzeichnen.

Dass die Behörden nun rigoros vorgehen, sorgt bei Hilfsorganisationen für Gesprächsstoff, es macht ihre Arbeit auch nicht einfacher. Während Asylwerber bisher recht gut eingebettet sind in einem System der Rechtsberatung, ist dies bei EU-Bürgern mit prekärem Status nicht der Fall. Bei den Betreuungseinrichtungen fehlt bisweilen die rechtliche Expertise, um zu wissen, ob eine Ausweisung zurecht oder zu unrecht ausgesprochen wurde. "Gerade obdachlose und bettelnde Menschen sind sichtbar. Sie werden ständig von der Polizei kontrolliert. Wenn sie keinen Meldezettel vorweisen, wird ihnen der Ausweis abgenommen, und den bekommen sie vom BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anm.) nur zurück, wenn sie ein Rückreiseticket vorweisen können", erzählt Annika Rauchberger vom Verein "Bettellobby".

Fremdenrecht erlaubt Abnahme des Passes

Rechtlich ist dieses Vorgehen durch das Fremdenrecht gedeckt, da das Abnehmen von Dokumenten unter "Sicherstellen von Beweismitteln" (§38 FPG) fällt. Doch was, wenn die Person erst vor zwei Wochen eingereist ist? Wie ist das nachzuweisen? Sozialarbeiter berichten von Fällen, in denen Personen des Landes verwiesen wurden, obwohl sie nur wenige Wochen in Österreich waren. Auch wird erzählt, dass es teilweise zu einer faktischen Beweislastumkehr kommt. "Im Zweifel werden die Leute ausgewiesen", sagt Rauchberger. Die Angaben sind schwer zu überprüfen, aber sie gleichen einander, egal bei welchen Hilfseinrichtungen man nachfragt.

Aus dem Innenministerium heißt es zur "Wiener Zeitung" schriftlich: "Bei der Klärung der Aufenthaltsdauer hat der EWR-Bürger [. . .] mitzuwirken! Wirkt dieser im Verfahren nicht mit, kann dies im Rahmen der Beweiswürdigung entsprechend berücksichtigt werden." Und weiter: "Grundsätzlich führt eine kurzfristige Ausreise [. . .] nicht dazu, dass die Dreimonatsfrist neu zu laufen beginnt, wenn der Lebensmittelpunkt nach Österreich verlegt wurde." Aber das gilt eben nur "grundsätzlich".

Tatsächlich passiert genau das. Auch das wird der "Wiener Zeitung" aus mehreren Quellen geschildert. Wenn die ausgewiesenen EU-Bürger nach Hause fahren, können sie wieder zurückfahren. Wenn sie in Österreich bleiben und erneut aufgegriffen werden, werden sie abgeschoben - das war im Vorjahr eben 2100 Mal der Fall -, aber die offenen Grenzen sind kein besonders großes Hindernis mehr. Auch wenn es Aufenthaltsverbote gibt. Viele kommen wieder, aber das rigorose Vorgehen zeigt schon auch Wirkung. "Es gibt ein Klima der Repression, weil es permanente Kontrollen gibt."

Ungarn kriminalisierte Obdachlosigkeit

Auch das ist eine Konsequenz von Freizügigkeit und offenen Grenzen. Die Mitgliedsstaaten können durch eklatant unfreundliche Behandlung das soziale Problem von Armut und Obdachlosigkeit wegschieben - und zwar gleich über die Grenze.

In Ungarn wurde Obdachlosigkeit im Vorjahr sogar kriminalisiert, erste Verhaftungen hat es bereits gegeben. Ministerpräsidenten Viktor Orban verweist zwar auf Heime für Obdachlose, allerdings sind es zu wenige, zudem können etliche Obdachlose nicht mit zig anderen in Schlafsälen übernachten und ziehen die Straße vor. Das wird ihnen per Gesetz aber verunmöglicht. Allerdings sind zumindest im letzten Winter weniger ungarische Obdachlose nach Wien gezogen als von den Stadt-Verantwortlichen erwartet worden waren. Spürbar war die Verschärfung schon, allerdings gibt es auch in anderen Ländern, etwa der Slowakei und Rumänien zunehmende Repressionen.

Das Ergebnis ist ein Ping-Pong-Spiel mit armen Menschen. Dessen Sinnhaftigkeit wird von Peter Marhold vom Verein "Helping Hands", der Rechtsberatung für EU-Bürger anbietet, infrage gestellt. "In Deutschland wurde die Anmeldebescheinigung abgeschafft", sagt er. In Deutschland werde zwar auch ausgewiesen und abgeschoben, aber nur, wenn etwas vorfällt, etwa eine Straftat begangen wurde. Marhold sagt: "Die Deutschen können halt rechnen. Die Abschiebungen kosten viel, und man gibt das Geld in Deutschland halt nicht für sinnlose Dinge aus."•