Zum Hauptinhalt springen

Andreas Schieder: "Ich will Europa als Wohlfahrtsstaat"

Von Walter Hämmerle

Politik
"Die Menschen in ganz Europa brauchen dringend eine starke, eine stärkere Sozialdemokratie", sagt Andreas Schieder.
© Moritz Ziegler

SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder bläst im EU-Wahlkampf zur großen Sozial-Offensive.


"Wiener Zeitung": Als vor kurzem der deutsche Juso-Chef Kevin Kühnert laut über die Kollektivierung privater Konzerne wie BMW nachdachte, erhielt er Rückendeckung von Julia Herr, der Obfrau der Sozialistischen Jugend und SPÖ-Kandidatin für die EU-Wahl. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner sprach sich dagegen aus. Ist die Demokratisierung der Wirtschaft nun noch eine rote Vision?

Andreas Schieder: Ich halte den Hintergrund dieser Debatte für hoch notwendig. Wir müssen dringend darüber reden, wie die Verteilung zwischen Staat und Privat künftig sein soll. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir überall in Europa eine falsche Privatisierungswelle erlebt, unter anderem auch in den Bereichen Verkehr, Wohnen und Wasser. Die Folgen waren stets zum Nachteil der Bürger und Konsumenten, weil diese Dienstleistungen meist teurer und schlechter wurden.

Es hat auch Privatisierungen und Liberalisierungen gegeben, etwa im Telekom-Bereich, bei denen die Konsumenten massiv profitiert haben.

Ja, das ist richtig. Trotzdem ist für mich klar, dass wir Privatisierungen bei öffentlichen Dienstleitungen einen Riegel vorschieben müssen.

In der Debatte um Kollektivierung ging es nicht um Wohnen oder Wasser, sondern um private Industriekonzerne.

Wir müssen diskutieren, wie wir mit großen Gewinnen umgehen, vor allem, wenn diese noch dazu ins Ausland verschoben werden, wo kaum noch Steuern anfallen. Das betrifft große Industriekonzerne wie auch digitale Plattformen wie Amazon, Facebook und Co. Hier finde ich eine Debatte über eine Demokratisierung durchaus sinnvoll in der Form, dass das Mitspracherecht der Arbeitnehmer in der Tradition der österreichischen Sozialpartnerschaft gestärkt wird und adäquate Steuern bezahlt werden. Von der Vergemeinschaftung privater Unternehmen halte ich nichts.

Im SPÖ-Wahlprogramm für die EU-Wahl findet sich auch das "Recht auf Arbeit". Mit dem fordert die SPÖ "nun eine Jobgarantie (. . .), die allen Menschen, die arbeiten können und arbeiten wollen, einen staatlich finanzierten Arbeitsplatz sichert". Das Zitat stammt aus der Presseaussendung der SJ. Im April waren 300.000 Menschen arbeitslos, in der EU sind es aktuell 16 Millionen: Wie wollen Sie das umsetzen und finanzieren?

In Österreich haben wir unter einem SPÖ-Kanzler Werner Faymann die Jugend-Garantie umgesetzt, nach der jeder Jugendliche das Recht auf einen Schul-, Lehr- oder Studienplatz beziehungsweise eben einen staatlich bereitgestellten Ausbildungsplatz erhält. Heute ist das ein zentraler Punkt im Wahlprogramm der europäischen Sozialdemokratie.

Das ist allerdings etwas völlig anderes als ein festgeschriebenes Recht auf Arbeit, finanziert mit staatlichen Mitteln.

Es gibt nach wir vor Regionen mit einer exorbitant hohen Arbeitslosigkeit. Hier muss man die Frage stellen, ob es nicht auch zu den Aufgaben der EU gehören sollte, sich um Arbeit für die Menschen zu kümmern. Ich bin der Meinung: Ja, das gehört zu den Aufgaben Europas. Bisher kümmert sich die EU nur darum, dass der Wettbewerb funktioniert, der Binnenmarkt und der Kapitalmarkt. Aber niemand kümmert sich darum, dass auch der Arbeitsmarkt in Europa funktioniert. Das soll sich ändern, deshalb wollen wir, dass in Qualifizierung investiert wird, wenn die Arbeitslosigkeit steigt, dass auch Sozialdumping innerhalb der EU verhindert wird.

Aber wie soll dieses Recht auf Arbeit im Detail funktionieren?

Hier reden wir von einem europäischen Investitionsprogramm, von einem politischen Rechtsanspruch, nicht von einem vor Gericht einklagbaren Recht.

Wie dringend benötigt die SPÖ einen Erfolg, wie wichtig ist für sie Platz eins am Abend des 26. Mai in Österreich?

Die Menschen in ganz Europa brauchen dringend eine starke, eine stärkere Sozialdemokratie.

Ist alles andere als Platz eins bei der EU-Wahl eine Niederlage?

Wir reden von einer Parlamentswahl. Wir wollen ein doppeltes Plus: Mehr Stimmen für die SPÖ, aber auch mehr Menschen, die überhaupt an dieser Wahl teilnehmen. Die Demokratie schützt man nur dadurch, dass die Bürger wählen gehen.

In diesem Wahlkampf sind sich SPÖ, Grüne, Neos, Liste Jetzt und KPÖ Plus einig im Kampf gegen Rechtsaußen und Nationalismus. Wertet man damit nicht den Gegner auf und verwässert das eigene politische Profil?

Das halte ich für einen falschen Eindruck. Richtig ist, dass Europas Populisten und Nationalisten sich zusammenschließen, um diese EU zu zerstören. Und Europas Konservative schauen dem Treiben interessiert zu, weil sie in vielen Staaten mit diesen Nationalisten gemeinsam regieren. Um das zu verhindern, muss die Sozialdemokratie aufzeigen, wie sie Europa verbessern will, es geht um die große soziale Frage, darum, was wir unter Gerechtigkeit verstehen. Nur ein Beispiel: Starbucks macht in Österreich 18 Millionen Euro Umsatz und zahlt 800 Euro Steuern. Das Wirtshaus "Zum frohen Schaffen" am Wiener Stadtrand zahlt das Zehnfache an Steuern. Als ich das der Wirtin erzählt habe, hat sie nur gemeint: "Irgendetwas machen wir falsch, wir sind die Depperten." Ich will ein Europa mit gleichen Rechten und Pflichten für alle. Wir brauchen für die Zukunft soziale Mindeststandards in allen EU-Staaten.

Was machen Sie, wenn es für diese Maßnahmen keine Mehrheiten in den betreffenden Staaten gibt?

Die EU hat den Binnenmarkt, und der funktioniert nur richtig, wenn es auch eine soziale Union gibt.

Mag sein, aber Sie brauchen trotzdem politische Mehrheiten in den Staaten, um solche Maßnahmen durchzusetzen.

Die EU muss diese Mindeststandards eben festlegen. Da kann es auch Mehrheitsentscheidungen geben. Einzelne Staaten blockieren bewusst sozialen Fortschritt, und dazu zählen auch Sebastian Kurz und seine österreichische Regierung.

Wenn die EU, wie von Ihnen gefordert, so viele neue Aufgaben übernimmt, welche Bereiche der Verwaltung könnten dann in Österreich wegfallen?

Das ist der Fehler der Diskussion: Es geht jetzt einmal darum, dass wir Antworten auf Fragen finden, die derzeit noch niemand in der EU geben will. Ich bin dafür, dass die EU-Kommission die Kompetenz erhält, das Pariser Klimaschutzabkommen auch umzusetzen. Die Nationalstaaten setzen diesen Vertrag nämlich derzeit nicht um, Österreich drohen Strafzahlungen von 6 bis 10 Milliarden Euro, weil wir nichts tun. Hier geht es also nicht darum, neue Bürokratien zu schaffen, sondern Probleme zu lösen.

Sind Sie für eine Republik Europa als Ziel des Integrationsprozesses?

In Wahlkämpfen werden immer gerne solche Überschriften produziert: Republik Europa, Vereinigte Staaten von Europa . . .

. . . oder "Recht auf Arbeit" . . .

Also, wenn ich mich entscheiden muss, dann nehme ich gerne das Recht auf Arbeit. Ich will Europa als Wohlfahrtsstaat. Entscheidend ist, dass die EU demokratischer wird, nach Möglichkeit mit einem direkt gewählten Kommissionspräsidenten oder zumindest mit einem, der die Mehrheiten im EU-Parlament widerspiegelt; wir brauchen eine EU mit weniger Blockaden durch nationale Regierungen. Notwendig sind mehr Rechte für das EU-Parlament und weniger für den Europäischen Rat der Regierungen.

Letzte Frage: Wann wird die EU-Fraktion der Sozialdemokraten die rumänischen Abgeordneten ausschließen, weil deren Regierung die Unabhängigkeit der Justiz aushöhlt?

Beim Kongress in Madrid wurde eine klare Botschaft kommuniziert: Entweder in Rumänien werden die Grundwerte wieder hergestellt, oder die Mitgliedschaft der rumänischen Sozialdemokraten in der EU-Fraktion ist Geschichte.

Und wann fällt die Entscheidung?

Laufend. Wobei sich ohnehin eine Parteispaltung in Bukarest abzeichnet. Das unterscheidet uns auch von den Europäischen Konservativen, bei denen Ungarns Fidesz immer noch Mitglied ist.

Wieso? Rumäniens Sozialdemokraten sind doch auch noch immer S&D-Mitglied . . .

Ich beharre darauf, dass wir im Gegensatz zur EVP eine glasklare Linie verfolgen: Wer nicht zu den Grundwerten steht, wird nach den EU-Wahlen nicht mehr Mitglied unserer Fraktion sein können.•