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Sebastian Kurz schöpft im FPÖ-Wählerpool

Von Simon Rosner

Politik

Politikberater Hofer sieht an der Kritik des Bundeskanzlers am "Regelungswahnsinn der EU" den Versuch der ÖVP, Wähler von der FPÖ in das türkise Lager zu holen.


Wien. Es ist keine Woche her, da gab Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) dem Deutschlandfunk ein Interview über seine Reformpläne für die Europäische Union. Es waren Überlegungen, die Kurz im Radio differenziert argumentierte: die Verkleinerung der Kommission, eine Trennung von Straßburg, wirkungsvollere Sanktionsmaßnahmen, ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips.

Kurz sagte auch: "Eine Straffung der Kommission würde zu weniger Regulierung und Bürokratie führen", denn, so der Kanzler, "jeder, der eine Funktion, aber keine wirkliche Aufgabe hat, der sucht sich natürlich eine Aufgabe. Der will sich verwirklichen, und dann entstehen neue Gesetze, neue Verordnungen, neue Bürokratie, und davon gibt es schon mehr als genug." Das war Kurz vor knapp einer Woche.

6638 EU-Verordnungen

Am Wochenende nun sprach der ÖVP-Chef vom "Regelungswahnsinn" der EU, von der "Bevormundung" Brüssels. Die EU solle aufhören, "den Menschen immer mehr vorzuschreiben, wie sie zu leben haben". Kein Mensch, so Kurz, brauche Vorgaben aus Brüssel für Schnitzel und Pommes, daher sollten 1000 EU-Verordnungen abgeschafft werden. Derzeit sind insgesamt 6638 EU-Verordnungen in Kraft, wie das EU-Rechtsportal "EUR-Lex" zeigt. Knapp ein Drittel davon (2106) geht auf das Konto der EU-Staaten zurück. Nur ein Zehntel geht auf das Konto des EU-Parlaments, der Rest wurde von der EU-Kommission vorgeschlagen. Alleine während der österreichischen Präsidentschaft wurden 52 neue EU-Gesetze geschaffen.

Rein inhaltlich liegen die beiden Kanzler-Interviews gar nicht meilenweit auseinander. Der Sukkus: Es gibt zu viele Verordnungen und zu viel Bürokratie. Politik ist aber nicht bloß ein inhaltlicher Wettbewerb, sondern auch - vielleicht sogar vor allem - ein rhetorischer. Und in dieser Hinsicht liegen Welten zwischen diesen Aussagen des Bundeskanzlers.

"Ich glaube auch nicht an Zufall", sagt der Politikberater Thomas Hofer. "Das ist ihm nicht rausgerutscht." Während die Spitzen der Neos, SPÖ und Grünen Sebastian Kurz für seine Wortwahl kritisierten, frohlockte ein anderer Kandidat: Harald Vilimsky, FPÖ: "Das, was jetzt gesagt wird, entspricht dem, was ich seit Jahren sage. Das freut mich." Dass der Kanzler binnen weniger Tage von einer Reformansage zur Diktion des EU-Bashings gelangt, ist doch bemerkenswert.

Hofer vermutet die Absicht, Wähler der FPÖ anzusprechen, die von den Freiheitlichen noch nicht ausreichend mobilisiert wurden. Schon bei der Nationalratswahl 2017 war laut Sora-Daten die größte aller Wählerbewegungen jene von Blau zu Türkis. Doch was damals klappte, muss nicht automatisch bei der EU-Wahl am 26. Mai funktionieren. "Es ist eine Gratwanderung", sagt Hofer." Denn ebenso wie sich nun FPÖ-affine Wähler erneut für den Kanzler (in Person dessen türkiser Kandidatin Karoline Edtstadler) entscheiden könnten, besteht die Gefahr, dass frühere pro-europäische ÖVP-Wähler ihr Kreuz diesmal woanders machen. Gerade in diesem pro-europäischen Lager gibt es diesmal reichlich Auswahl.

Dass Othmar Karas nicht Kurz’ Wunschkandidat war, ist offenkundig, gleichzeitig aber war dessen Standing zu groß, um ihn nicht als Listenersten zu nominieren. Karas wäre dann womöglich mit eigener Liste angetreten und hätte der ÖVP den ersten Platz kosten können. Für blaue Wähler ist Karas allerdings eine echte Hürde, seit Jahren schießt sich die FPÖ und vor allem Harald Vilimsky auf den langjährigen Mandatar ein. Nun, im Wahlkampf, ist Karas gewissermaßen der Hauptgegner geworden.

Edtstadler als Angebot

Kurz entschied sich wohl auch deshalb für eine Art Doppelspitze mit Edtstadler. "Es war aus der Not geboren keine schlechte Strategie", sagt Politikanalyst Hofer. Freilich: "Die einheitliche Botschaft war damit nicht mehr gegeben. Und zwar gar nicht." Doch gerade dies, sagt Hofer, sei für Wahlkämpfe essenziell.

Entscheidend wird sein, ob diese ungewöhnliche und riskante "Mehrmarkten-Strategie" mit einer ausdifferenzierten Online-Vermarktung doch erfolgreich sein kann. Die ÖVP unter Sebastian Kurz ist vor allem dank der Arbeit des Kampagnen-Experten Philipp Maderthaner in dieser Hinsicht in Österreich führend, sie kann sehr gezielt werben und potenzielle Wählerinnen und Wähler ansprechen. Dennoch: Das Risiko bleibt.

Während zwischen Karas und der Listenzweiten, Karoline Edtstadler, bisher ein Gleichgewicht bestand, hat Kurz nun für relativ klare Fronten gesorgt. Karas, der Verfechter der forcierten Europäischen Integration und "Vereinigten Staaten Europas", steht plötzlich alleine da. Das Wort eines Kanzlers hat eben Gewicht. Und von diesem Trumpf hat Sebastian Kurz jetzt Gebrauch gemacht.

Bei der vergangenen EU-Wahl hat sich gezeigt, dass die FPÖ von allen Parteien die geringste Stammwählerschaft aufweist. Nur 64 Prozent der blauen Wählerschaft hatte der FPÖ bereits 2009 ihr Vertrauen geschenkt. Bei anderen Parteien, auch der ÖVP, lagen die Werte über 70 Prozent. "Die FPÖ-Wähler sind im Durchschnitt jünger als bei ÖVP und SPÖ, haben deswegen im Schnitt eine geringere Parteibindung und auch weniger das Gefühl, dass Wählen eine Pflicht ist", sagt Christoph Hofinger, Forscher bei Sora. Für die Blauen ist es daher stets wichtig, die eigene Klientel zu mobilisieren.

Umworbene Nichtwähler

Bei der EU-Wahl kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Die tendenziell EU-kritische Wählerschaft interessiert die Wahl einfach nicht - oder nicht genug. Die Wahlbeteiligung bei EU-Wahlen lag bis auf das erste Mal (1996) stets unter 50 Prozent. Allerdings zeigen die bisherigen Umfragen, dass es eine Tendenz zu einer höheren Wahlbeteiligung gibt. Es geht also darum, aus dem großen Reservoir der Nichtwähler zu schöpfen. Das könnte auch der FPÖ nutzen. Oder auch der ÖVP, wenn der Gamble aufgeht.

"Es gibt ein Umdenken in der Bevölkerung. Sie sieht, dass es Fiktion ist, dass man alles national regeln kann", sagt Hofinger. Das haben die Krisen der Vergangenheit offenbart: Ganz allein geht es nicht mehr. Erst kürzlich hatte Sora für den ORF eine Umfrage gestaltet, ob die EU eine Führungsrolle einnehmen müsse: (wörtlich: "Soll die EU danach trachten, statt den USA bei internationalen Entwicklungen die Richtung vorzugeben?"). Eine Mehrheit bejahte diese Frage. "Das hat uns doch überrascht", sagt Hofinger.