Zum Hauptinhalt springen

Voggenhuber: "Wenn Sie wollen, war ich naiv"

Von Walter Hämmerle

Politik
Voggenhuber ist für Grenzen nationaler Schuldenpolitik, lehnt aber starre fiskale Beschränkungen ab.
© WZ/Moritz Ziegler

Johannes Voggenhuber, Spitzenkandidat von "Europa Jetzt", über eigene Irrtümer und das Gebot der sozialen Union.


Wien/Brüssel. Johannes Voggenhuber war schon, wo er am 26. Mai wieder hin will: im EU-Parlament. Der 68-jährige Salzburger saß schon von 1995 bis 2009 für die Grünen in Straßburg und Brüssel, dann allerdings überwarf er sich mit seiner ehemaligen Partei, für die er einst sogar als Klubobmann im Nationalrat fungierte. Europapolitisch profilierte sich der streitbare Geist als Mitglied des Konvents für die Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung. Unterstützt wird seine Kandidatur von der von Peter Pilz gegründeten Liste Jetzt.

"Wiener Zeitung": Sämtliche Umfragen geben Ihrer Kandidatur keine Chance, den Einzug ins EU-Parlament zu schaffen. Deckt sich dies mit Ihrer persönlichen Sicht?

Johannes Voggenhuber: In diesem Wahlkampf steckt viel mehr Dynamik, als es die Umfragen abbilden. Darin sagen 40 Prozent der Befragten, dass sie zur Wahl gehen wollen; und davon geben 60 Prozent an, dass sie bereits wissen, wem sie ihre Stimmen geben. Und wenn man die Ergebnisse der Parteien hochrechnet, muss noch eine Schwankungsbreite von 3,9 Prozentpunkten berücksichtigt werden: Kurz gesagt: Mit diesen Umfragen lässt sich das Wahlergebnis nicht seriös prognostizieren.

Anders gefragt: Sind Sie überzeugt, es zu schaffen?

Überzeugt? Nein, aber optimistisch. Ich habe in vollem Bewusstsein des Risikos eine Initiative gegründet, weil ich sie für politisch unbedingt notwendig erachte: Die vereinte nationalistische und anti-europäische Rechte bläst zum Marsch auf Brüssel. Mir geht es um den Widerstand gegen Nationalismus und autoritäres Denkens und um einen Gegenentwurf: die Republik Europa.

Wann beginnt legitime Kritik an den bestehenden Verhältnissen der EU umzuschlagen in eine anti-europäische Haltung? Immerhin sind Sie selbst auch ein gnadenloser Kritiker des Bestehenden.

Diese Unterscheidung ist recht einfach: In der Politik gilt nämlich der gleiche Grundsatz wie im restlichen Leben auch . . .

Dass der Standort den Standpunkt bestimmt?

Nein, nein, im Gegenteil. Wenn ich einen Missstand aufgreife, um das Ganze damit zu desavouieren; wenn ich kritisiere, ohne Alternativen aufzuzeigen; wenn ich das Ganze madig mache, dann schlägt Kritik um in Zerstörung.

Auch Sie bezeichneten sich schon vor dem EU-Beitritt Österreichs 1995 als Europäer, kritisierten dennoch heftig die damalige Gemeinschaft und warben sogar für ein Nein bei der Volksabstimmung. Die wirtschaftliche Integration war für Sie ein kapitalistisches Projekt, an dem Sie kein gutes Haar ließen. Nach Ihren eigenen Kriterien waren Sie selbst ein Anti-Europäer.

Überhaupt nicht. Ich war stets ein Befürworter der europäischen Einigung. Was stimmt: Ich habe damals den Stand des Projekts für höchst missglückt gehalten: keine ausreichende Demokratie, weder Grund- und Freiheitsrechte noch eine Sozialunion. Wenn ich meinen damaligen Zorn erklären müsste, würde ich von enttäuschter Liebe sprechen. Hinter meinem Nein stand aber ein kühles strategisches Konzept: Den Beitritt der reichen Efta-Staaten Schweden, Finnland und Österreich habe ich als letzte Chance empfunden, vor dem absehbaren Beitritt der Osteuropäer, eine Reform der EU in Richtung Parlamentarismus, Grundrechte und Sozialunion zu erzwingen. Bei diesem Kalkül, das gebe ich zu, habe ich mich geirrt. Zu glauben, es hätte gelingen können, die Efta-Staaten für diese Ziele zu einen, kann man, wenn Sie wollen, im Nachhinein als Naivität bezeichnen. Geirrt habe ich mich auch darin, dass kleine Staaten in der EU nichts zu melden hätten. Ich habe erlebt, dass man als Vertreter einer kleinen Partei eines kleinen Staates großen Einfluss gewinnen kann. Zu meiner vollkommenen Überraschung habe ich in Europa erlebt, dass ein stichhaltiges Argument Gewicht haben kann.

Auch jetzt konzentrieren sich fast alle Parteien auf die Kritik an der bestehenden Union, während die ungeheuren Fortschritte bei der Integration kaum anerkannt werden. Hätten Sie es vor zehn Jahren für möglich gehalten, dass die Euro-Staaten sich jedes Budget von der EU absegnen lassen müssen?

Ich sehe diese Fortschritte, und es stimmt, dass diese von außen viel mehr wahrgenommen werden. Es gab nur auch massive Gegenbewegungen. So wurde bei den Erweiterungsverhandlungen viel zu sehr über die wirtschaftliche Angleichung der Kandidatenstaaten gesprochen und zu wenig über Justiz und Grundfreiheiten. Man dachte, diese Unterschiede würden sich später von alleine angleichen. Auch das war naiv, das Gegenteil ist eingetreten.

Immerhin gibt es das Artikel-7-Verfahren, mit welchem nationale Verstöße gegen die Grundwerte der EU sanktioniert werden. Derzeit laufen zwei Verfahren gegen Polen und Ungarn, und ein weiteres gegen Rumänien ist absehbar.

Ja, das gibt es, und ich anerkenne das auch, allerdings fehlt es an Flexibilität. Die schlimmst mögliche Konsequenz ist die zeitweise Aberkennung des Stimmrechts. Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, was die Fortschritte angeht, aber die werden zunichtegemacht durch die Fehler während der Schuldenkrise. Die Leistung des Lissabon-Vertrags war es, die gesamte Säulenstruktur der EU - Kommission, Rat, Parlament, Gerichtshof - in eine bundesstaatliche Struktur einzubinden. Doch dann wurden in der Wirtschaftskrise die Rettungs- und Krisenmechanismen wie ESM und andere in eine rein zwischenstaatliche Form gegossen. Das war eine schwere Verletzung der europäischen Rechtsordnung.

Eine Rechtsverletzung war auch, dass einige Staaten ihre Verpflichtungen zur Budgetdisziplin gebrochen haben. Worauf ich hinaus will: Dass die Politik in Krisen Prinzipien zurechtbiegt, ist nicht neu. Auch die EZB strapaziert ihr Mandat, indem sie zur Refinanzierung der Staaten beiträgt.

Ich widerspreche entschieden. Das Spiel mit dem Notstand ist zugegeben ein sehr schwieriges. Hier geht es um offenen Verfassungsbruch, denn der Rechtsstaat sieht die Möglichkeit eines Notstands ja vor, aber nur unter Bedingungen: Dieser muss verkündet und zeitlich begrenzt werden. Beides war hier nicht der Fall.

Zur Zukunft: Was sind die drängendsten Aufgaben, vor denen die EU steht?

Wir müssen aus der Lähmung heraus und wir müssen aus der Vertrauenskrise der Bürger heraus. Das ist die Voraussetzung, damit wir überhaupt die Reformen angehen können, die dringend notwendig sind. Bevor wir klären, welche Kompetenzen nach Brüssel wandern sollen, müssen wir entscheiden, dass die Kompetenzen, die nach Brüssel kommen, auf jeden Fall demokratisch legitimiert, parlamentarisch und nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung verwaltet und öffentlich kontrolliert werden. Davon sind wir noch weit entfernt - und entfernen uns weiter.

Die Union ist vielfach gebrochen: zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Was ist Ihr Rezept, diese Gräben zu überwinden?

Am Ende stoßen wir immer wieder auf die Frage der sozialen Solidarität. Die darf nicht immer erst auf den Notfall ausgerichtet sein, weil dann stellt sich verlässlich die Schuld- und Verantwortungsfrage, das haben wir in der Schuldenkrise gesehen. Die Grundlagen für soziale Solidarität muss in den guten Zeiten gelegt werden, dann werden auch die Vorteile deutlich, die sich aus einer Heranführung ergeben. Ein gelungenes Beispiel ist die Unterstützung für das Burgenland, das enorm aufgeholt hat, ein gescheitertes ist der Fall Griechenlands in der Wirtschaftskrise.

Aber wie wollen Sie nun die Widerstände gegen Ihr Konzept von sozialer Solidarität überwinden?

Ich bin dafür, die Situation von Notfällen in die Rechtsordnung mitaufzunehmen, es braucht auch eine strenge Kontrolle und Grenzen für die nationale Schuldenpolitik, aber ich bin dagegen, dass man starre fiskale Beschränkungen in die Verfassungen der Mitgliedstaaten schreibt. Ich bin ein Keynesianer, und zwar ein richtiger, nicht nur ein halber: Schulden aus schlechten Zeiten müssen in guten Zeiten wieder zurückgezahlt werden.

Werden wir konkret: Laut Frühjahrsprognose der EU-Kommission steuern Italien und Frankreich auf eine Verletzung der Defizitgrenzen zu. In Frankreich regiert der Pro-Europäer Emmanuel Macron, in Italien ein Duo linker und rechter EU-Kritiker: Was tun: Härte oder Milde?

Die Antwort auf diese isolierte Frage ist tatsächlich schwierig. Ich empfehle, dass die EU-Kommission ihre Arbeit tun sollte und bei der Analyse auch die Struktur der nationalen Schulden berücksichtigt; da würde man markante Unterschiede zwischen Rom und Paris erkennen, weil Italiens Koalition versucht, die Wähler mit völlig unfinanzierbaren Traumprojekten zu kaufen. Das grundsätzliche Problem liegt aber in den Geburtsfehlern des Binnenmarkts. Höhere Sozialstandards wurden immer nur als Standortnachteil betrachtet. Wenn wir sie nicht angleichen, wird das Sozialdumping dazu führen, dass das Sozialsystem Europas erodiert.