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Die Notwendigkeit und Unmöglichkeit einer Sozialunion

Von Simon Rosner

Politik

Die Sozialunion war einmal eine Vision. Wie sieht es heute aus? Die Konstruktion der EU macht eine Beschäftigung damit notwendig, gleichzeitig aber eine Lösung schwer. Der Versuch einer wirtschaftspolitischen Herleitung.


Als die Sozialunion erstmals als Schlagwort durch Europa reiste, begann in Österreich gerade Bruno Kreisky damit, seine sozialen Reformen umzusetzen. Es war Anfang der 70er Jahre, als Willy Brandt, damals deutscher Kanzler, diese Idee gebar. Freilich, es war damals nur eine vage Vision. Sie blieb es bis 1992, bis zum Vertrag von Maastricht, als aus der Vision ein Zielbegriff wurde. Eine Umsetzung gab es bisher nicht.

Es ist jedoch nicht so, dass seither nichts passiert wäre. Die Realisierung des Binnenmarktes und später der Währungsunion, die einst einmal auch nur vage Ideen gewesen waren, hatten Brandts Vision von einer Sozialunion auch eine Notwendigkeit verliehen.

Gemeinsame Währung setzt Löhne unter Druck

Der Euro bedingt, dass die einzelnen Länder ihre Währungen nicht mehr wie früher abwerten können, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Damit ist den Ländern ein wichtiger Ausgleichsmechanismus abhandengekommen, wenn sich die Produktivität unterscheidet. Die Konsequenz ist, dass der Druck auf die Löhne steigt. Wenn die Anpassung nicht mehr über die Währung erfolgen kann, muss sie zwangsläufig vor allem über die Löhne passieren.

Abgesehen davon, dass dies für die davon betroffenen Arbeitnehmer problematisch ist, wirkt das auch negativ auf den Konsum und damit auf das Wirtschaftswachstum. Und es steht auch dem Ziel der Konvergenz entgegen, also der (Lohn-)Angleichung der EU-Staaten. Denn die Grundidee der europäischen Integration ist, dass die heute armen Regionen nicht ewig arm bleiben. Wobei dies eher ein politisches Ziel ist.

Mobilität ist ein wichtiger Ausgleichsmechanismus

Ökonomisch stellen solche Produktivitäts- und damit Lohnunterschiede innerhalb einer Währungsunion noch kein grundsätzliches Problem dar. Auch in den USA sind die regionalen Unterschiede beträchtlich, wenn auch nicht ganz so groß wie in Europa.

In Nordamerika gibt es aber deutlich mehr Mobilität über die Grenzen der Bundesstaaten hinweg, und zwar etwa dreimal so viel wie in der EU. Die Menschen ziehen von unproduktiven in produktive Regionen, was nicht nur für sie persönlich von Vorteil ist, sondern insgesamt das Wirtschaftswachstum fördert. Auch diese Mobilität ist ein zentraler Ausgleichsmechanismus, und sie war stets auch ein Ziel der EU, eben damit die Währungsunion funktioniert.

Eine Voraussetzung dafür ist der Binnenmarkt. Unionsbürger können in jedem Mitgliedstaat wohnen und arbeiten, zuletzt wurde dies in der Freizügigkeitsrichtlinie von 2004 noch einmal erweitert. Und die EU fördert die Mobilität auch in anderer Weise, etwa durch Auslands-Stipendien.

Doch es war lange nicht sicher, wie groß dieses Potenzial ist. Anders als in den USA gibt es nicht eine Landessprache, zudem sind die kulturellen Unterschiede größer. "In den 90er Jahren ist viel dazu geforscht worden, ob eine Währungsunion überhaupt möglich ist, wenn die Arbeitskräfte nicht ausreichend mobil sind", sagt der Ökonom Gottfried Haber von der Donau-Uni in Krems.

Nur 3 Prozent migrieren in EU, aber schwere politische Folgen

Laut EU haben bisher 16 Millionen Unionsbürger vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht. Das ist bei 512 Millionen Einwohnern eigentlich nicht viel, dennoch hat die Migration dazu beigetragen, dass es in der Union zu einer gewissen Konvergenz gekommen ist. Die ärmeren Länder haben aufgeholt. Arbeitskräfte sind in die starken Volkswirtschaften gezogen, nicht zuletzt auch nach Österreich, das hat die Arbeitsmärkte in Osteuropa entlastet und Löhne steigen lassen. Von der Krise und ihren Folgen waren aber die neuen EU-Mitglieder stärker betroffen, der Aufholprozess wurde zurückgeworfen.

Die Migration hatte aber auch politische Folgen, und zwar in einer Dimension, die von der europäischen Politik vermutlich zu lange unbeachtet geblieben ist. Das Thema hatte etwa eine bedeutende Rolle beim Brexit gespielt. Nach der EU-Erweiterung in den 2000er Jahren hatten die Briten auf Übergangsfristen bei der Arbeitsmarktöffnung verzichtet. Die damalige Erwartung, dass pro Jahr 5000 bis 13.000 aus den neuen EU-Staaten einwandern werden, wurde um das Zwanzigfache übertroffen. Besonders nach der Wirtschaftskrise wurde dies ein beherrschendes politisches Thema in Großbritannien.

Dem gegenüber stehen auch Probleme der Abwanderung (und ihrer Folgen), vor allem in einigen osteuropäischen Ländern. Litauen beispielsweise hat in den vergangenen zehn Jahren rund 15 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Auch Rumänien erlebt Jahr für Jahr einen Einwohnerrückgang.

Dass sich innerhalb eines Binnenmarktes mit Währungsunion soziale Fragen stellen, ist angesichts dieser Gemengelage logisch. Ebenso naheliegend ist die Forderung eines europäischen Mindestlohns (siehe Artikel unten), wenn mangels Alternativen die Anpassung verstärkt über Löhne passiert. Auch Konservative wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker forderten bereits einen solchen Mindestlohn.

Gegenwärtig regelt jedes EU-Mitglied diese Frage selbst, wie auch generell die Sozialsysteme national gestaltet sind. Das ist aber gleichsam ein Problem, wie Haber sagt: "Die Sozialsysteme sind nicht auf Mobilität ausgelegt. Das Einzahlen in und das Konsumieren aus dem Sozialtopf ist daran gebunden, wo jemand lebt." Das führt immer wieder zu realen Problemen: Kann etwa der Partner einer Forscherin, die beruflich nach Deutschland zieht, dort Arbeitslosengeld beziehen, wenn er in Österreich seinen Job aufgibt? (Antwort: Ja, unter gewissen Umständen.)

Sozialleistungen sind nicht exportierbar

Versicherungsleistungen, etwa auch die Pension, sind mittlerweile exportierbar. Das heißt, ein Rentnerpaar aus Bludenz kann sich in Teneriffa niederlassen und dort die Pension genießen. In all den Jahren hat es einige Schritte wie diesen in Richtung einer Sozialunion gegeben, aber es blieb alles Stückwerk. Sozialleistungen sind auch bis heute nicht in anderen Ländern konsumierbar. Darauf beruft sich etwa die Bundesregierung bei der Indexierung der Familienbeihilfe. Doch genau diese Leistung ist eben auch ein Beispiel für die Graubereiche, die das derzeitige System bietet. Was ist eine Sozialleistung, was ein Anspruch, von dem kein Unionsbürger ausgeschlossen werden darf?

Ein anderes Beispiel: Wenn die Forscherin mit ihrem Mann in der Pension nach Österreich zurückkehrt, hat sie vielleicht jahrzehntelang in die Pflegeversicherung in Deutschland eingezahlt. Konsumieren kann sie diese nicht, da in Österreich die Pflege aus Steuermitteln bezahlt wird. Haber glaubt, dass aus diesen Gründen "in den nächsten zehn Jahren" verstärkt auf Versicherungssysteme umgestellt wird. Eben weil die Ansprüche dadurch leichter mitgenommen werden können.

EU-Bürger müssen überall gleichbehandelt werden

Das gilt alles freilich nur für Arbeitsmigration, auf sie zielt die EU mit ihrem Grundrecht auf Freizügigkeit ab. Doch das exkludiert Migration aus anderen wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen. Etwa aus Gründen einer Beziehung. Grundsätzlich, so argumentiert der Sozialrechtler Walter Pfeil von der Universität Salzburg, darf niemandem, der von den Grundfreiheiten Gebrauch macht, ein Nachteil entstehen. EU-Bürger müssen überall gleichbehandelt werden. Sie können in Wien im Gemeindebau wohnen, Sozialhilfe erhalten und auch das Bildungs- und Gesundheitswesen nutzen.

Doch die EU erlaubte in ihrer Richtlinie von 2004, den Zugang zum Grundrecht auf Freizügigkeit zu beschränken. Der deutsche Ökonom und langjährige Leiter des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, sagte damals: "Sozialstaatlichkeit, soziale Inklusion und Freizügigkeit sind drei Ziele der Verfassung (später Grundrechtecharta, Anm.), die nicht zusammenpassen. Eines dieser Ziele muss geopfert werden."

Vielleicht hat man nicht eines dieser Ziele gänzlich geopfert, aber die Staaten haben sehr wohl Hürden für die Freizügigkeit aufgestellt. Wer sich in Österreich niederlassen will, muss eine Krankenversicherung und ausreichende Existenzmittel nachweisen. Die Details dieser Beschränkungen wurden in Österreich zuletzt noch einmal erhöht, doch es hat überall Anpassungen gegeben. Das Ziel war dabei stets, Armutszuwanderung zu verhindern. Migration soll grundsätzlich nur der besseren Allokation der Arbeit dienen. Oder dem Erlangen von Bildung.

Die Praxis ist allerdings eine andere. Menschen bleiben oft, wenn sie in der Fremde ihren Job verlieren. Oder sie gehen Partnerschaften mit jemandem in einem anderen Land ein. Und sie umgehen die nationalen Hürden zur Freizügigkeit irgendwie. Armutsmigration lässt sich nicht verhindern, nur erschweren. Doch je komplexer die Systeme gebaut werden, je schärfer die Kontrollen sind, desto mühsamer wird es für alle, die ihr Grundrecht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen. Und genau das steht der Förderung der Mobilität als wichtigem ökonomischen Ausgleichsmechanismus entgegen. In einem Europa, in dem es einen Arbeitsmarkt gibt, wirken unterschiedliche Sozialsysteme auf die gewünschte Arbeitsmigration hinderlich.

In die Debatte kam, neben dem Mindestlohn, auch eine europaweite Arbeitslosenversicherung. Sie wird vor allem von Sozialdemokraten propagiert. Sie ist allerdings nicht als Ersatz für die nationalen Systeme gedacht, sondern als Ergänzung. Wenn ein Land wegen eines plötzlichen Einbruchs der Wirtschaftsleistung mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert ist, soll es aus einem europäischen Fonds unterstützt werden. Eine Mehrheit dafür zeichnet sich allerdings eher nicht ab. Und die Frage ist, wie sich Länder verhalten, die aus diesem Topf unterstützt werden, also wenn Mittel direkt aus Brüssel kommen. Werden dann nationale Programme vielleicht abgebaut?

20 Grundsätze für soziale Säule

Doch der soziale Blick in Brüssel hat sich in den vergangenen Jahren schon geschärft. Ende 2017 wurde die "Europäische Säule sozialer Rechte" unterzeichnet, in der Chancengleichheit, faire Arbeitsbedingungen, gerechte Entlohnung und das Recht auf Sozialschutz und einen Mindestlohn verankert wurde. Insgesamt wurden 20 Grundsätze definiert, deren Einhaltung freilich unverbindlich ist, was von linken Parteien auch kritisiert wurde.

Doch es gibt eine fortlaufende Evaluierung. In sogenannten "Social Scoreboards" in den einzelnen Länderberichten wird die Entwicklung geprüft, gänzlich ignorieren wird man grobe Verstöße nicht können. Das zumindest ist die Hoffnung der EU-Kommission, dass im Fall der Fälle Verstöße auch als Druckmittel eingesetzt werden. Und irgendwann, in einigen Jahren, vielleicht Jahrzehnten, könnte die Charta auch verbindlich und damit auch soziale Mindeststandards für alle Länder beschlossen werden. Und das wäre dann schon eine Form einer Sozialunion. Vielleicht nicht die, von der Willy Brandt einst träumte. Aber anderseits eine, die weiter geht, als sich viele wohl heute vorstellen können.