Budapest/Wien. Den Ausbruch der Causa Strache hat Paul Lendvai als "einen der schönsten, überraschendsten Tage meines Lebens" bezeichnet. Der österreichische Publizist und Osteuropa-Experte betonte in einem Interview in der ungarischen Tageszeitung "Nepszava" am heutigen Samstag, der Strache-Skandal habe in Österreich eine "heilende Krise entfesselt". Dies sei ein "Geschenk" für das Land.

Zugleich habe sich gezeigt, dass in der Geschichte, der Politik nichts voraussagbar sei. Hinsichtlich der Gefahr des Durchbruchs des nationalistischen Populismus in Europa betonte Lendvai, diese Gefahr sei nicht berechenbar, weil sie in jedem Land anders sei. Zugleich würden die Menschen fast überall erkennen, so auch in Österreich und Ungarn, dass nationalistisch-populistische Parteien und Korruption nicht voneinander zu trennen sind. Hinsichtlich der Europäischen Union unterstrich der Publizist, die Menschen hätten sich an die Union und deren Vorteile, wie Reisefreiheit, Auslandsstudium, den Euro, gewöhnt, die sie nicht missen möchten. Europa habe "Anziehungskraft", die aber nur schwer zu mobilisieren sei.

Der Strache-Skandal habe keinen Einfluss auf das System Viktor Orbans in Ungarn. Lendvai bezeichnete Orban als "Meister des politischen Zynismus, als Chamäleon". Denn der Sturz von Strache hinge in erster Linie von der auf starken Pfeilern basierenden Pressefreiheit ab, betonte Lendvai und erinnerte an das österreichische öffentlich-rechtliche Fernsehen und dessen intensive Berichterstattung mit Interviewpartnern von der Rechten und Linken. In diesem Zusammenhang würde Lendvai den ungarischen Regierungssprecher Zoltan Kovacs gerne nach Österreich schicken, um zu sehen, wie die dortige Presse über diesen Fall berichtet. Denn wer das ungarische Staatsfernsehen verfolgt hätte, "erfuhr nichts über das Warum des Skandals, nur dass Strache dumm war".

Lendvai erinnerte weiter daran, dass der Strache-Skandal offensichtlich den sozialistischen, liberalen und grünen Parteien nütze, wobei der Sturz der österreichischen Regierung wiederum jene schwächen würde, die die Mitte und die Rechte miteinander verbinden wollen. Lendvai hofft, dass Rechtsextreme und Nationalisten nicht den erhofften Sieg bei den EU-Wahlen erringen. Dazu könne "in bescheidenem Maße der österreichische politische Skandal und die Selbstenthüllung der FPÖ beitragen", betonte der Publizist.

Am 24. August 1929 in Budapest geboren, wurde Lendvai wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nazis verfolgt und im kommunistischen Ungarn interniert, während der NS-Zeit wurde er mit Berufsverbot belegt. 1956 emigrierte er nach Österreich, 1959 wurde er österreichischer Staatsbürger. Schon während seines Jus-Studiums in Ungarn war er journalistisch tätig gewesen, in Österreich setzte er diese Laufbahn fort: Lendvai war rund zwei Jahrzehnte lang Osteuropa-Korrespondent der Zeitung "Die Presse" und der "Financial Times". Daneben war er Kolumnist für österreichische, deutsche und Schweizer Zeitungen und Rundfunkanstalten. Von 1982 bis 1987 war er Leiter der Osteuropa-Redaktion des Österreichischen Rundfunks, danach bis 1998 Intendant von Radio Österreich International.

Lendvai ist Leiter der TV-Sendung "Europastudio" und schreibt eine wöchentliche Kolumne für die Tageszeitung "Der Standard". Seit 1980 trägt der Mitherausgeber und Chefredakteur der Vierteljahreszeitschrift "Europäische Rundschau" den Berufstitel "Professor", zudem ist er unter anderem Träger des Karl-Renner-Preises für Publizistik und des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich. 2006 erhielt er den österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.(apa)