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Das Ende des Vertrauens

Von Simon Rosner und Jan Michael Marchart

Politik

Erstmals in der Zweiten Republik hat der Nationalrat einer Bundesregierung das Misstrauen ausgesprochen. Die SPÖ brachte den Antrag ein, die FPÖ stimmte als erste scheidende Regierungspartei zu.


Wien. Sebastian Kurz kam zu spät. Es waren wohl auch viele Hände zu schütteln auf dem Weg in den Sitzungssaal des Nationalrats. Tags zuvor hatte der Wahltag der ÖVP starke 34,9 Prozent eingebracht. Es gab also gute Gründe, dem Bundeskanzler zur gratulieren. Zwei Wahlen hat die ÖVP unter Kurz geschlagen, zweimal holte Türkis eine satte Mehrheit, noch nie war der Vorsprung auf die SPÖ bei einer bundesweiten Wahl so groß wie diesmal.

Rund drei Stunden später verlor Sebastian Kurz seine dritte große Wahl, jene um das Vertrauen des Nationalrats. Zum ersten Mal in der Zweiten Republik versagte das Parlament einem Bundeskanzler das Vertrauen. Auch bei Ministern war es nie zu einem erfolgreichen Antrag gekommen, 185 Mal hatte es die Opposition probiert, sieben Mal auch in dieser Legislaturperiode, aber erfolgreich waren diese Anträge bisher nie. Der 27. Mai 2019 bot ein Novum: Bei der Abstimmung über den Antrag der SPÖ auf Entlassung der gesamten Regierung standen alle Abgeordneten der SPÖ, FPÖ und Liste Jetzt auf: Sebastian Kurz war als Kanzler abgewählt.

Auch wenn sich in den vergangenen Tagen der Fokus der Öffentlichkeit auf die SPÖ konzentriert hat, ist die eigentliche Besonderheit das Verhalten der FPÖ. Dass Oppositionsparteien der Regierung oder einigen ihrer Mitglieder misstraut, ist nicht so ungewöhnlich. Doch noch nie hat eine Regierungspartei nach dem vorzeitigen Ende einer Koalition einem Misstrauensantrag gegen Minister und/oder den Kanzler zugestimmt.

Einmal war es knapp, im Jahr 2008, als die ÖVP nach Aufkündigung der Zusammenarbeit mit der SPÖ ("Es reicht") überlegte, bei einem Misstrauensvotum der Grünen gegen den damaligen Verteidigungsminister Norbert Darabos mitzugehen. Ein heftiger Streit der Ex-Koalitionspartner war die Folge, die Volkspartei entschied sich am Ende doch dagegen. Dass sie dabei vom staatspolitischen Ethos übermannt wurde, ist zwar möglich, wahrscheinlich ist es nicht. Schon zuvor hatte es ein "Stillschweigeabkommen" zwischen Rot und Schwarz gegeben, nachdem ebenfalls die Grünen einen Misstrauensantrag gegen die gesamte Regierung eingebracht hatten. Parteichef war damals übrigens ein gewisser Alexander Van der Bellen. "Sich gegenseitig mit Misstrauensanträgen ins Chaos zu stürzen, halte ich nicht für ein sinnvolles Programm", sagte damals Werner Faymann, der kurz davor Alfred Gusenbauer an der SPÖ-Spitze abgelöst hatte.

Kurz: "Ich verstehe Rachegelüste"

Es ist eben ein bedeutender Vorteil in einer Wahlauseinandersetzung, über Ministerämter zu verfügen und auf die Ressourcen in den Ministerien zurückgreifen zu können. Während sich Oppositionsparteien auch meist schwertun, mehr als nur ein, zwei Persönlichkeiten in der Öffentlichkeit zu präsentieren, haben Ministerinnen und Minister einen weitaus besseren Zugang zu dieser (medialen) Öffentlichkeit. Es ist wohl dieser Grund gewesen, weshalb sich ÖVP und SPÖ 2008 gegenseitig schonten.

Auch damals hatte die Opposition nach dem Zerbrechen einer Koalition versucht, das freie Spiel der Kräfte für ihre Zwecke zu nutzen, doch alle Misstrauensanträge von FPÖ, Grünen und BZÖ blieben erfolglos. Nicht so diesmal. Die FPÖ hatte nämlich ihre Minister nach der Entlassung von Innenminister Herbert Kickl von sich aus zurückgezogen und sich - anders als ÖVP und SPÖ 2008 - in die Oppositionsrolle begeben; eine Rolle, die den Freiheitlichen, vor allem ihrem langjährigen Generalsekretär Kickl, liegt. Als Regierungspartei hatte die FPÖ dagegen stets ihre Schwierigkeiten. Das war 1983 in der Koalition mit der SPÖ so, vor allem aber unter Schwarz-Blau, als die Freiheitlichen bei einer einzigen Wahl um 17 Prozentpunkte abstürzte.

Kickl: "Kurz hat die gesamte FPÖ in Sippenhaft genommen"

"Wir haben vertraut", sagte Kickl, "haben aber ein anderes Gesicht gesehen, als dieses freundliche, ewig lächelnde. Er hat die ganze FPÖ für das Fehlverhalten Zweier in Sippenhaft genommen. Er hat versucht, eine schwierige Phase eines Regierungspartners auszunutzen. Es ging ihm und seinen Beratern nur darum, das Innenministerium unter Kontrolle zu bringen". Kickl zeichnete in seiner Rede ein Bild von einer "alten ÖVP", die Kurz getrieben habe.

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Der Bundeskanzler widmete seine Worte fast ausschließlich der SPÖ. "Ich verstehe Rachegelüste, ich verstehe, sich vor einer Wahl in bessere Ausgangsposition zu bringen", sagte Kurz. Es könne aber "niemand in dem Land nachvollziehen", warum die SPÖ der gesamten Regierung das Misstrauen aussprechen wolle. Sebastian Kurz blieb, wie gewohnt, ruhig, wenig emotional, für diese Situation vielleicht doch eher kühl. Für die Emotion sorgte dann August Wöginger, von Kurz noch extra instruiert vor seiner Wortmeldung: "Es ist unfassbar, unglaublich. Die Sozialdemokratie handelt gegen das Volk und gegen den Willen des Bundespräsidenten. Sie stürzen das Land ins Chaos." Kurz quittierte Wögingers Rede mit einem Kopfnicken.

Rendi-Wagner: "Es ist ein schamloser Griff nach Macht"

Auch bei der SPÖ hatte man die Rollen dieser Art verteilt. Erst Jörg Leichtfried, der ganz ruhig eine Dringliche Anfrage einbrachte, danach Parteichefin Pamela Rendi-Wagner, die scharfe Kritik übte: "Es ist ein schamloser, zügelloser Griff nach der Macht. Aber die Macht in unserem Land geht vom Volke aus und von den Menschen. Es ist ungeheuerlich und ein Präzedenzfall in der Zweiten Republik. Wir sind nicht den persönlichen Interessen eines Einzelnen verpflichtet", sagte Rendi-Wagner. In ihrer vielleicht wichtigsten Rede im Nationalrat, war er also da, der Bihänder, den ihr Vorgänger Christian Kern einst gefordert hatte für die Oppositionsarbeit. Dass sich die SPÖ darin nach wie vor schwertut, war nicht zuletzt am Wahlabend am Sonntag zu bemerken, während sich die Freiheitlichen offenkundig binnen weniger Tage in ihre alte Rolle eingefunden haben. Sie passt ihnen, wie auch die Nationalratssitzung zeigte. Doch die SPÖ tat an diesem Tag, was die Opposition im Jahr 2008 getan hatte. Sie tat, was die FPÖ vor zwei Jahren versucht hatte, als sie einen Misstrauensantrag gegen die gesamte Regierung einbrachte. Damals blieben beide scheidenden Regierungsparteien sitzen. Nicht diesmal. Es war ganz still im Hohen Haus, als sich um 16.15 Uhr die Abgeordneten der FPÖ, SPÖ und Jetzt von ihren Sitzen erhoben als Zeichen der Zustimmung. Der Nationalrat entsagte damit erstmals einer Bundesregierung das Vertrauen.

Kurz selbst vernahm es regungslos. Er saß auf seinem Sessel, eine Hand auf dem Tisch und hörte der Zweiten Nationalratspräsidentin Doris Bures zu, die den weiteren Ablauf schilderte. Zuvor hatte es noch Standing Ovantions von der ÖVP-Fraktion gegeben, auch Nationalratspräsident, Wolfgang Sobotka, applaudierte mit. Danach stand Kurz auf, verabschiedete sich von Bures per Handschlag, dann winkte er zweimal ins Plenum und zog mit der gesamten Regierung ab. Er wird nun nicht mehr Kanzler sein. Bis Herbst zumindest. Dann könnte er wieder als Kanzler ins Parlament kommen.