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Adamovich: "Kein überflüssiges Wort, kein Pathos"

Von Simon Rosner

Politik
Verfassungsrechtler Ludwig Adamovich: "Hans Kelsen war, wenn Sie so wollen, der Hauptredaktor der Verfassung."
© Andy Urban

Der ehemalige Verfassungsrichter Ludwig Adamovich über Hans Kelsen und die "Eleganz der Verfassung".


Wien. Vor wenigen Tagen wandte sich der Bundespräsident an die Menschen in Österreich. "Wir betreten in diesen Tagen Neuland", sagte Alexander Van der Bellen, doch "gerade in Zeiten wie diesen zeigt sich die Eleganz, ja die Schönheit unserer österreichischen Bundesverfassung." Das Bundes-Verfassungsgesetz stammt aus dem Jahr 1920 und wurde 1929 grundlegend verändert. Als "Vater" der Verfassung gilt der Rechtsphilosoph Hans Kelsen. Über die Verfassung und ihren Architekten sprach die "Wiener Zeitung" mit dem ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, Ludwig Adamovich.

"Wiener Zeitung": Worin besteht die "Eleganz und Schönheit" der Verfassung?

Ludwig Adamovich: Kein überflüssiges Wort, sie ist nicht wie in Stein gehauen, kommt ohne jedes Pathos aus und enthält die Normen, die man braucht, aber nichts darüber hinaus.

Ist das ungewöhnlich für eine Verfassung?

Verfassungen haben sich historisch entwickelt. Die Kelsen-Verfassung ist in eine Zeit hineingeplatzt, in der auch die Kunst in dieselbe Richtung tendiert hat. Man muss das schon kulturell als Einheit sehen.

Kelsen hat sich intensiv mit Philosophie beschäftigt. Ist diese Auseinandersetzung auch in den Text der Verfassung eingegangen?

Nicht unmittelbar, aber durch diese Kürze und Präzision ist sie insofern eingegangen, als man sich eben gehütet hat, zu viele Worte zu verwenden, wo es auch weniger sein konnten.

Es scheint in der Verfassung für alle politischen Eventualitäten vorgesorgt, samt einem klaren Ablauf. Heute scheint das logisch, aber war es das damals auch?

Man hat da und dort schon Ergänzungen vorgenommen, das ist auch verständlich. Das Gegenstück dazu ist die Verfassung der USA, bei der kaum der Text geändert wird, aber man auf dem Weg der Judikatur danach trachtet, sich durchzuschwindeln. Das ist aber nicht unser Weg.

Bei Gesetzen ist die Judikatur von großer Bedeutung. Sie ändert sich fortlaufend, ist gewissermaßen eine "Tochter der Zeit". Es gibt eine Reihe von Gesetzen, die seit Jahrzehnten fast unverändert sind, aber heute anders ausgelegt werden. Wie ist das mit dem Bundesverfassungsgesetz und seinen Hauptbestimmungen?

Die Verfassung ist instrumentaler dort, wo sich im Zivilrecht die Wertvorstellungen schon stark geändert haben. Und da hängt das Recht manchmal den gesellschaftlichen Entwicklungen nach. Daher muss man über kurz oder lang nachbessern. Man hat natürlich am Verfassungstext verschiedene Verbesserungen vorgenommen, aber das sind eher technische Änderungen. Ein großer Komplex betrifft aber die Grundrechte, die früher eine geringere Rolle gespielt haben. Man tut sich hier ein bisschen schwer und behilft sich weitgehend mit internationalem Recht, das gleichzeitig auch nationales Recht ist.

Warum hat man nicht nach dem Krieg, wie viele andere Länder, eine neue Verfassung beschlossen?

Das war sehr kontroversiell. Man darf nicht vergessen, dass man damals mit der russischen Besatzungsmacht zu tun hatte. Da eine neue Verfassung zustande zu bringen, das wäre eine äußerst mühsame Geschichte gewesen.

Also eher Pragmatismus statt politischer Wille?

Ja. Sinngemäß hatte man sich damals gesagt, bevor man eine kontroverse Änderung vornimmt, lässt man es lieber bei der alten.

Hans Kelsen gilt als Verfasser. Aber an der Verfassung schrieben andere auch mit, etwa die damaligen Regierungsmitglieder Karl Renner und Michael Mayr. Was war tatsächlich Kelsens Rolle?

Er ist nicht der Schöpfer in dem Sinn gewesen, dass er alles aus eigener Vollkommenheit heraus ins Leben gerufen hat. Es haben natürlich andere mitgewirkt. Wenn Sie so wollen, war er der Hauptredaktor.

Hat er die politischen Ideen, die Kompromisse der damaligen Politiker, in Worte gefasst, weil diese nicht so gut formulieren konnten?

Naja, wenn Sie an Ignaz Seipel denken, der war schon ein geschliffener Denker. Otto Bauer natürlich auch.

Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz geht nicht die "Staatsgewalt", sondern das "Recht vom Volk" aus. Ist das nur ein semantischer Unterschied?

Es steckt da schon ein bisschen Ideologie dahinter. Denn "Staatsgewalt" ist etwas Fassbares, das "Recht" bewegt sich doch auf einer höheren Ebene. Und außerdem steht bei uns geschrieben: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." Und da kann man natürlich auch darüber philosophieren, was das heißt.

Wie würden Sie dieses "Ihr" interpretieren?

Das positive österreichische Recht geht vom Volk aus. Ob es daneben aber auch ein Recht gibt, das, sagen wir, höheren Ursprungs ist und nicht vom Volk kommt, wird dadurch offengelassen.

Als Besonderheit des Bundesverfassungsgesetzes wird oft Artikel 18 erwähnt: "Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden." Worin besteht die Besonderheit dieses heute logisch klingenden Satzes?

Das hat zwei Gründe. Erstens war es nicht immer so. Zur Zeit der Monarchie war das Gesetz nicht die ausschließliche Rechtsquelle staatlicher Tätigkeiten. Zweitens wollte man sie damit nicht für Rechtsquellen öffnen, die nicht Gesetz sind. Wenn man das mit der ähnlichen Bestimmung des deutschen Grundgesetzes vergleicht, sieht man den Unterschied. In Deutschland ist staatliche Tätigkeit an "Gesetz und Recht" gebunden, also nicht nur an das Gesetz.

Österreich und sein Verhältnis zur Verwaltung sorgt mitunter für Zuschreibungen wie jene des "Beamtenstaates". Ist das Positive an der jetzigen Situation, dass die Menschen sehen, wie die Verwaltung in Österreich, auch dank der Verfassung, funktioniert?

Das ist richtig, da stimme ich Ihnen voll zu.

Ludwig Adamovich war Universitätsprofessor für öffentliches Recht, von 1984 bis 2002 Präsident des Verfassungsgerichtshofes, dem bereits sein Vater vorgestanden war. Danach beriet der mittlerweile 86-jährige Jurist Bundespräsident Heinz Fischer in verfassungsrechtlichen Fragen - wie auch den amtierenden Bundespräsidenten.