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Doppelte Staatsbürgerschaft bleibt Herzensangelegenheit

Von Andreas Raffeiner

Politik

Europarechtler Peter Hilpold sieht keine Probleme, die gegen eine Doppelstaatsbürgerschaft von Südtirolern sprechen würden.


Bozen/Innsbruck. Das 182 Seiten starke Koalitionsprogramm "Zusammen. Für unser Österreich 2017-2022" des damaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz und Vizekanzlers Heinz-Christian Strache hatte viele Ziele. Einige wurden umgesetzt, andere nicht mehr behandelt. Zu den Letzteren gehört auch die auf Seite 33 beinhaltete Neugestaltung des Staatsbürgerschaftsgesetzes und damit einhergehend die doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler.

Nach der Ibiza-Affäre und dem Misstrauen gegen die Regierung Kurz ist nun die Frage, ob die neue Regierung unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein diese Frage überhaupt aufgreift. Dass das Projekt mit dem Regierungswechsel nun gestorben ist, glaubt der Völker- und Europarechtler Peter Hilpold (Universität Innsbruck) allerdings nicht.

"Wiener Zeitung":Wie würden Sie die völkerrechtlich-bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und Italien rund 25 Jahre nach der sogenannten Streitbeilegung beschreiben?

Peter Hilpold: Die bilateralen Beziehungen würde ich als sehr gut, als freundschaftlich bezeichnen. Soweit es Interessensgegensätze gibt, sind diese eher punktueller Natur wie im Verkehrssektor oder sie sind Teil breiterer Themenkomplexe, wie jenem der wirksamen Migrationssteuerung beziehungsweise der Frage, ob die EU zu einer Solidarunion werden soll. Diese Meinungsverschiedenheiten sind dann aber nicht bilateraler Art, sondern Ausdruck von Auffassungsunterschieden, die jeweils eine Reihe von Staaten vereint beziehungsweise wechselseitig gegenüberstellt.

Ist es nicht so, dass immer wieder kalter Wind aus Rom bläst und regelmäßig der Ruf nach dem Internationalen Gerichtshof laut wird?

Die Dezentralisierungsdebatte in Italien ist eine sehr komplexe. Einige autonome Regionen arbeiten sehr gut. Autonomieregelungen werden nun auch von Regionen mit Normalstatut beansprucht. Dies führt zu einem Verteilungskampf und es fehlt oft das Verständnis für die Bedürfnisse von Regionen wie jener Trentino-Südtirols, die ihre Existenzberechtigung aus Minderheitenschutz und aus einem internationalen Abkommen aus 1946, dem Gruber-Degasperi-Abkommen, ableitet. Deshalb ist die Verteidigung dieser Autonomie, die ja sehr gut funktioniert, ein ständiger Kampf. Dieser Kampf ist nicht nur mit juristischen Mitteln zu führen, sondern auch mit politischen. Der Ruf nach dem IGH erscheint mir hingegen nicht wirklich realistisch zu sein. Der Gang zum Internationalen Gerichtshof ist eine "ultima ratio", ein Weg, der hoffentlich nie beschritten werden muss.

Bundeskanzler Sebastian Kurz ist jetzt einmal Geschichte. Somit ist auch die doppelte Staatsbürgerschaft, die von der FPÖ ins Regierungsprogramm reklamiert wurde, vorerst vom Tisch. Heißt das, dass dieses Projekt gestorben ist?

Aber keineswegs. Wieso sollte dieses Projekt gestorben sein? Ich habe den Eindruck, dass dieses Anliegen sowohl in Österreich als auch in Südtirol auf breiter Ebene als "Herzensanliegen" empfunden wird. Wenn es verschiedentlich eine Gegnerschaft dazu gibt, so beruht diese vielfach auf einer Unkenntnis der einschlägigen internationalen Entwicklungen. Es gibt mittlerweile eine europaweite, ja eine weltweite Öffnung hin zur doppelten Staatenstaatsbürgerschaft. Das wird nur in unseren Breiten oft ignoriert. Deshalb auch diese irrationalen Ängste, die aber, so wie ich das sehe, immer weniger werden.

Warum stellt sich in Ihren Augen Italien quer, wenn es um eine mögliche doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler deutscher und ladinischer Muttersprache geht?

Das ist meist nur parteipolitisches Geplänkel. Italien kann schwerlich die doppelte Staatsbürgerschaft grundsätzlich ablehnen, wenn es diese selbst den italienischen Minderheiten im Ausland gewährt.

Können Sie den Aussagen einiger Persönlichkeiten südlich des Brenners, dass der Erhalt einer zweiten Staatsbürgerschaft die Bevölkerung spalten würde, etwas Positives abgewinnen?

Nein, ich sehe dieses Problem nicht.

Gibt es folglich "Tiroler erster Klasse" und "Tiroler zweiter Klasse" oder ist diese Einteilung nur sinnfreie Schwarzmalerei und Panikmache?

Wer über eine zweite Staatsbürgerschaft verfügt, ist nichts "Anderes", nichts "Besseres", in keiner Form "verschieden".

Extrembergsteiger Reinhold Messner warnte vor einer zweiten "Option". Vergisst er die Tatsache, dass die "Option" von 1939 keine Option dem Wortsinn nach war und dass diese eine Kollektiventscheidung war, während der potenzielle Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft für jeden eine individuelle Entscheidung ist?

Was oft übersehen wird: Es gab in der Zwischenkriegszeit europaweit mehrere Optionsabkommen: Alle waren von ungemeiner Härte und Grausamkeit geprägt. Sie wurden den betroffenen Völkern aufgezwungen. Die nun avisierte Regelung ist das genaue Gegenteil davon: Die Anwendung erfolgt auf völlig freiwilliger Basis, niemandem wird etwas genommen, sondern allenfalls etwas gegeben, niemand muss aufgrund seiner Entscheidung das Land verlassen.

Sollte Italien als EU-Gründungsmitglied aus der Staatengemeinschaft ausscheiden, wäre das ein Horrorszenario für Südtirol. Würden, falls Österreich den Südtirolern die zweite Staatsbürgerschaft geben sollte, dann die jetzigen Kritiker und Gegner auch um eine solche ansuchen?

Ich gehe davon aus, ja ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Italien in der EU bleiben wird.

26 der 28 EU-Mitgliedstaaten erlauben die doppelte Staatsbürgerschaft. Gab es in der Vergangenheit auch anderswo Reibungspunkte zwischen Staaten in dieser Fragestellung?

Probleme dieser Art gab es und gibt es dort, wo es akute Minderheitenkonflikte gepaart mit Rechtsstaatlichkeitsfragen gibt. In Bezug auf Südtirol sind wir glücklicherweise weit entfernt davon.

Wie würden Sie abschließend die Minderheitenpolitik der Europäischen Union beschreiben? Ist der Leitspruch "Einheit durch Vielfalt" eine hohle Phrase oder bereit, endlich mit Leben erfüllt zu werden?

In sprachlicher und kultureller Hinsicht scheint mir dies eine treffende Bezeichnung für die Realität in Europa zu sein, die international eine viel beachtete und bewunderte Besonderheit darstellt. In Bezug auf den Außenauftritt und in Hinblick auf Fragen wie Migration, Wirtschaftswachstum, finanzielle Stabilität brauchen wir aber wahrscheinlich mehr "Einheit" als "Vielfalt", wenn die EU langfristig Bestand haben soll.