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Die Verlässliche, die mit allen spricht

Von Karl Ettinger und Martina Madner

Politik

Neo-Kanzlerin Bierlein setzt auf Dialog. Den Parlamentsparteien ging es um einen günstigen Wahlkampfstart.


Wien. Juristen unter sich. Die Premiere mit der Regierungserklärung der ersten Bundeskanzlerin Österreichs beginnt am Mittwochvormittag mit einer kurzen Plauderei der nunmehrigen Kanzlerin Brigitte Bierlein, bis vor wenigen Tagen noch Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, mit der jetzigen Neos-Parlamentarierin und früheren Präsidentin des Obersten Gerichthofs, Irmgard Griss. Diese findet auch noch Zeit zur persönlichen Begrüßung des ehemaligen Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs, Clemens Jabloner, der der Neos-Mandatarin nun als Vizekanzler auf der Regierungsbank gegenübersteht.

Bierlein wird auch von SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner vor Beginn der Nationalratssitzung in Beschlag genommen. Sie tritt seit Tagen als eine Art heimliche Lenkerin der Geschicke der mit Beamten besetzen Übergangsregierung auf.

Dabei will die parteilose Abgeordnete Martha Bißmann, vormals Liste Pilz (später in Jetzt umbenannt), die Bundeskanzlerin ebenfalls begrüßen. Aber nicht nur sie, auch Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka hat neben dem Politikerinnenkränzchen zu warten. Er mahnte schließlich mit einem Fingerzeig auf seine Uhr, dass es Zeit wäre zu starten.

Ciceros um Vertrauen ergänztes Vermächtnis

Schließlich steht die erste Rede einer Bundeskanzlerin im österreichischen Parlament am Programm. Nach der Angelobung der Ex-Minister als neue ÖVP-Abgeordnete und dem Einbringen einer ganzen Latte an Anträgen ist es nach gut 20 Minuten soweit. Bierlein tritt im eleganten lila Kostüm ans Rednerpult. Sachlich-nüchtern, ganz Juristin, liest sie die Regierungserklärung vom Blatt. Sie knüpft bei einem Zitat Ciceros an, und zwar: "Nichts hält das Gemeinwesen besser zusammen als die Verlässlichkeit." Sie betont, für Stabilität und Sicherheit zu sorgen - und ergänzt Cicero: "Für Verlässlichkeit stehen wir und um Vertrauen werben wir."

Sie habe seit ihrem Amtsantritt auf Dialog gesetzt: "Diesen Dialog möchte und werde ich in der gesamten Amtszeit aufrechterhalten", versprach Bierlein. Am Tag genau 25 Jahre nach Österreichs Volksabstimmung für den EU-Beitritt beschwört Bierlein in der Europapolitik und speziell bei der Bestellung des österreichischen EU-Kommissars das Miteinander der Parteien bei der Suche nach einem Kandidaten mit fachlicher Expertise. Sie appelliert mit Nachdruck, "in diesem Prozess Einigkeit zu zeigen".

Unüberhörbar ist ihre Schelte für SPÖ und FPÖ, auf deren Drängen hin die Neuwahl erst am 29. September stattfinden soll. Noch steht der Termin nicht fest, dem Antrag, dass es vorgezogene Wahlen gibt, stimmen jedenfalls alle Fraktionen bis auf die Liste Jetzt später zu. Die Übergangsregierung hätte sich einen früheren Termin gewünscht, sagt Bierlein, man respektiere aber die Entscheidung des Parlaments.

Bekenntnis des Vizekanzlers zur Menschenrechtskonvention

Nochmals die Bekräftigung, Verlässlichkeit und Vertrauen zu bieten - und schon war die eine Viertelstunde lange oder besser kurze Regierungserklärung zu Ende. Der Applaus ist höflich lang, nicht ohne die sonst oft gekünstelt wirkenden stehenden Ovationen für frühere Bundeskanzler.

Noch kürzer macht es ihr Vizekanzler Clemens Jabloner, der im grauen Anzug bis auf dezent rötliche Punkte auf seiner Krawatte fast ohne Farbtupfer auskommt: "Ich identifiziere mich mit jedem Wort, das die Bundeskanzlerin vor mit gesagt hat." Inhaltlich sticht das ausdrückliche Bekenntnis in seiner Funktion als Justizminister zur Europäischen Menschenrechtskonvention hervor. Ein subtiler Seitenhieb auf die türkis-blaue Koalition, die in Asylfragen auch daran gerüttelt hat.

Nach den wohlabgewogenen Worten der Spitzen der Übergangsregierung hält der Nationalratswahlkampf gleich mit ÖVP-Klubobmann August Wöginger Einzug ins Parlament. Zwar sichert er der Übergangsregierung wie später alle anderen Klubchefs Unterstützung zu. Daran schließt aber die seit Tagen von der ÖVP getrommelte Warnung vor einem "rot-blauen Pakt".

Wöginger bemüht sogar eine rote Eisenbahnerwitwe, die er getroffen habe. Nicht einmal diese habe die Abwahl der von Bundespräsident Alexander Van der Bellen nach dem türkis-blauen Bruch eingesetzten Regierung mit ÖVP-Chef Sebastian Kurz verstanden, hält er der SPÖ vor. "Halten wir keine Wahlkampfzuckerl-Reden", will er den anderen einimpfen - um dann das eigene Zuckerl, die mit der FPÖ geplante Erhöhung eines Fünftels der Mindestpensionen, als bereits ins Budget eingepreist zu rechtfertigen.

Dank von den Chefinnenvon SPÖ und Neos

SPÖ-Chefin Rendi-Wagner sagt wie später Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger dagegen ausdrücklich danke dafür, dass Bierlein und ihr Expertenkabinett die Verantwortung übernommen haben. Das Ende der "Dialoglosigkeit" bejubelte sie regelrecht, ein unüberhörbarer Seitenhieb auf Kurz: "Statt Inszenierung herrscht nun Sachlichkeit." Auch die SPÖ ist im Wahlkampfmodus. Dass man rasch vor der Wahl das Rauchverbot in Lokalen umsetzen und das Wasser per Verfassungsgesetz retten will, begründet Rendi-Wagner so: "Wir Abgeordneten sind gewählt, um zu arbeiten und nicht, um Stillstand zu haben."

Bemerkenswert ist die Wortmeldung des designierten FPÖ-Obmanns Norbert Hofer, der ein Plädoyer für "Ideologie" als "Leuchtturm des Handelns" ablegt: "Die Inszenierung, die Show, das Schauspiel, taktische Überlegungen, das steht zu sehr im Vordergrund." Die Kritik an Kurz, der aus der ÖVP-FPÖ-Regierung nach dem Ibiza-Video ausgestiegen ist, ist unüberhörbar. Mit einer anderen spitzen Äußerung erntet er sogar Lacher in anderen Fraktionen: "Man kann nicht sagen, jede Koalition ist schlecht, bei der die ÖVP nicht dabei ist."

Neos-Chefin Meinl-Reisinger ärgert sich, dass gerade an dem Tag mit der Premiere einer Kanzlerin der "Rosenkrieg" und das "parteipolitische Hickhack-Spielchen" weitergehe. Sie warnt wegen der Beschlüsse vor der Nationalratswahl Ende September nochmals: "Öffnen Sie nicht die Büchse der Pandora."

Jetzt-Klubchef Wolfgang Zinggl erinnert daran, dass es mit Tier- und Klimaschutz die Chance auf neue Gesetze ohne Mehrkosten gebe. Nach einer Stunde sind die Wortmeldungen der Klubchefs durch. Das Gefeilsche im nun erklärten "freien Spiel der Kräfte" im Hohen Haus ist eröffnet - und zwar abseits der TV-Kameras.