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Den Wechselwählern auf der Spur

Von Werner Reisinger

Politik

Das Haus der Geschichte Österreichs hat gemeinsam mit den Meinungsforschern von Sora, dem ORF und dem Parlament die Wählerströme seit 1919 analysiert. Eine neue Anwendung bereitet diese interaktiv auf.


Wien. Zur Nationalratswahl 1986 erstellte Günther Ogris vom Meinungsforschungsinstitut Sora die erste Wählerstromanalyse für den ORF (Der Mathematiker Erich Neuwirth hatte schon 1983 eine Wählerstromanalyse erstellt). Seither sind die Analysen der Wählerbewegungen von einer Wahl auf die andere aus der politischen Berichterstattung, vor allem im TV, nicht mehr wegzudenken.

Für das Haus der Geschichte Österreichs (HGÖ) hat das Team von Sora, zusammen mit dem ORF-Archiv und dem Parlament, nun alle verfügbaren Wählerstrom-Daten der letzten 100 Jahre zusammengetragen und daraus eine interaktive, digitale Anwendung entwickelt: Diese bietet nicht nur die jeweiligen Wählerströme zu jeder Wahl seit 1919 en détail, sondern liefert zudem auch Basisdaten wie die Detailergebnisse oder Wahlbeteiligung sowie die wichtigsten Inhalte der kandidierenden Parteien und ihren Spitzenkandidaten. Zudem lieferten das ORF-Archiv und das Parlament Bild- und Videomaterial rund um die Wahl.

Die umfangreiche neue Anwendung wurde in die aktuelle HGÖ-Ausstellung integriert und ist ab sofort dort für Besucher verfügbar. Die Ausstellungsgestalter hätten sich bewusst dafür entschieden, die Station mit der neuen Anwendung direkt im ersten Raum der HGÖ-Ausstellung - jener, der sich mit dem Beginn der 1. Republik im November 1918 auseinandersetzt - einzufügen, sagt Monika Sommer, Direktorin des HGÖ. Im Herbst, noch rechtzeitig vor den vorgezogenen Neuwahlen am 29. September, soll die Anwendung auch im Internet zur Verfügung gestellt werden.

Wendepunkt 1970er Jahre

Sommer sieht das Projekt als "wertvolle Ergänzung der Vermittlungsarbeit", die das Haus der Geschichte vor allem für Schüler und Jugendliche leisten will. Die Auswertung der Wählerstrom-Daten lieferte den Wahlforschern und Ausstellungsmachern zudem Material für spannende Querschnitts-Analysen. "Es ist nun möglich, die gesamte politische Entwicklung von der Ersten zur Zweiten Republik im Überblick zu betrachten", sagt Sora-Forscher Ogris. "Während die erste Republik von zahlreichen parteipolitischen Fusionen, Kooperationen und Spaltungen geprägt war, war dies in der Zweiten Republik nicht der Fall." Zumindest, bis es zur Gründung der Grünen, der Abspaltung des Liberalen Forums von der FPÖ und schließlich zur Knittelfelder Parteispaltung der FPÖ selbst kam.

Die zusammengetragenen Daten zeigen deutlich, dass die Stammwähler vor allem der ehemaligen großen Lager-Parteien SPÖ und ÖVP stetig weniger werden. Bis in die Siebzigerjahre weisen die Wählerstromanalysen bis zu 90 Prozent aller Wähler als konstante Parteiwähler aus, sie blieben bei jeder Wahl ihrer Partei treu. Dieser Prozentsatz sank bis zur letzten Nationalratswahl im Oktober 2017 auf nur mehr 56 Prozent. Parallel dazu nahm der Anteil der Wechselwähler stetig zu. Im Jahr 1975 lag deren Anteil auf einem Niedrigstand von nur 9 Prozent, 2017 waren 37 Prozent der Wahlberechtigten Wechselwähler. Auch verloren ÖVP und SPÖ Anfang der Neunziger ihre bis dahin dominante Stellung. 1994 erreichten sie erstmals seit 1945 zusammen keine Zweitdrittelmehrheit mehr.

Der Einblick in die Wählerströme ist auch zeithistorisch spannend. 1949 trat mit der "Wahlpartei der Unabhängigen" (WdU, später "Verband der Unabhängigen" VdU) erstmals die Vorläufer-Partei der FPÖ bei Nationalratswahlen an.Die WdU erreichte damals 16 Nationalratsmandate und 11,7 Prozent der Stimmen. Dass die WdU die Partei der ehemaligen Nationalsozialisten war, zeigen deutlich die Wählerdaten. Zwar holte die WdU 89.000 Stimmen von der SPÖ und 85.000 von der ÖVP, mit 229.000 aber kamen die meisten Stimmen aus der Gruppe jener 940.000 Personen, die 1945 nicht wählen dürften - eben ehemalige "Minderbelastete" Nationalsozialisten oder heimgekehrte Kriegsgefangene sowie eingebürgerte ehemalige NS-Zwangsarbeiter. Die Ex-Nazis machten rund die Hälfte dieser Gruppe aus. Von den 940.000 wählten 24 Prozent die WdU, je 31 Prozent SPÖ oder ÖVP und 6 Prozent die KPÖ - der Rest waren Nichtwähler.