Wien. Wenn es so etwas wie ein Hochamt der Demokratie geben sollte, dann müsste es im Parlament gefeiert werden, wo die Volksvertreter mit der Kraft ihrer Argumente um die beste Lösung ringen. Die Wirklichkeit könnte davon nicht weiter entfernt sein, finden Irmgard Griss und Alfred Noll. Beide sind Spitzenjuristen; beide betonen ihre Unabhängigkeit, obwohl sie auf Parteilisten - hier Neos, da Liste Jetzt - ins Parlament einzogen; und beide verlassen den Nationalrat. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihnen über die triste Wirklichkeit.
"Wiener Zeitung": Wo sitzt die Macht in Österreich, in welchen Institutionen findet man sie?
Irmgard Griss: Wenn man das nur wüsste! Es gibt ja verschiedene Formen von Macht, soziale, politische, wirtschaftliche . . .
Reden wir von politischer Macht.
Griss: Also mit Sicherheit findet man die nicht im Parlament. Macht bedeutet für mich die Kraft zu gestalten oder zu verhindern. Das können politische Parteien, teils die Kammern und der Gewerkschaftsbund.
Alfred Noll: Ihre Frage leidet unter einem gewissen Anachronismus, weil sie unterstellt, dass es überhaupt einen klar identifizierbaren Ort der Macht gäbe. In früheren Jahrhunderten konnte man mit dem Finger auf den König oder seine Exekutive zeigen, weil das, was Max Weber das legitime Gewaltmonopol genannt hat, damals körperlich identifizierbar war. Heute gilt das nicht mehr.
Warum nicht?
Noll: Macht ist heute ein flüssiger Körper, der in den Verhältnissen ruht. Und ein Problem der Politik besteht ja genau darin, dass dieser Ort und die Personen, die sich hier befinden, sich nicht mehr eindeutig identifizieren lassen. So gesehen ist es klug, wie Frau Griss es getan hat, zunächst einmal festzuhalten, wo die Macht nicht ist. Und nach 21 Monaten persönlicher Erfahrung kann ich mit Überzeugung feststellen: Das Parlament ist zwar ein Instrument der Machtausübung, aber mit Sicherheit kein Akteur.
Welchen Stellenwert haben dann Wahlen, wenn die Körperschaft, die gewählt wird, machtlos ist?
Noll: Verzeihen Sie, dass ich mich vordränge, aber mir liegt der alte Kalauer aus der 68er-Bewegung auf der Zunge: Wenn Wahlen etwas verändern könnten, wären sie längst verboten.
Wie ernst meinen Sie diesen Satz?
Noll: Natürlich ist es ein Kalauer, er ist also nicht wortwörtlich zu nehmen. Und trotzdem müssen wir uns davor hüten zu glauben, dass Wahlen politische Macht begründen; Wahlen sind vielmehr ein Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse.
Frau Griss, Sie schütteln den Kopf.
Griss: Nur leicht. Wahlen haben aus meiner Sicht eine zentrale Rolle: Durch sie werden die Personen bestimmt und sichtbar, die anschließend den in einem Gemeinwesen zur Verfügung stehenden Gestaltungsraum ausfüllen. Wahlen bestimmen also die Spieler, die vorne auf der Bühne stehen, auch wenn diese manchmal bloß Marionetten sind. Wahlen sorgen dafür, dass Macht ein Gesicht erhält, ein oberflächliches zwar, aber immerhin.

