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Ein Dorf wie Österreich

Von Simon Rosner

Politik
Thomas Seifert ist Bürgermeister von Stetten: "Ich könnte fast täglich Baugrund verkaufen."
© Tatjana Sternisa

Die Bewohner von Stetten haben vor zwei Jahren genau so gewählt wie die gesamte Republik. Ein Zufall?


Nach Stetten kann man aus allen vier Himmelsrichtungen gelangen. Kommt man vom Süden, ist eine Baustelle bei einem großen Umspannwerk des Verbunds auszumachen. Vom Osten kommend, ist linker Hand eine neue Siedlung zu sehen, erst wenige Jahre alt. Wer aus nördlicher Richtung nach Stetten fährt, muss unweigerlich bei der Volksschule vorbei. Doch die meisten kommen aus dem Westen, denn dort ist die Abfahrt von der S1. An dieser Gemeindegrenze, im Westen, befindet sich seit einigen Jahren ein Gewerbegebiet mit klassischen, betrieblichen Flachdachbauten.

Es lässt sich schon sagen: Egal, woher man kommt, aus welcher Himmelsrichtung, es lässt sich die Veränderung sehen, die Stetten in den vergangenen Jahren erlebt hat. Und man sieht sie auch vom Himmelweg, der zwischen Weinreben auf einen kleinen Hügel führt. Von hier hat man alles im Blick, das Alte und das Neue, den Kirchturm und den Friedhof links, die neuen Betriebshallen des Winzerunternehmens Pfaffl rechts. Aber in gewisser Weise hat man von hier, am Himmelweg, auch einen guten Blick auf die gesamte Republik.

© Tatjana Sternisa

Denn als Österreich vor zwei Jahren den Nationalrat wählte, hat diese kleine, nur knapp 1000 Wahlberechtigte fassende Gemeinde fast genau so abgestimmt wie das gesamte Land. Die Abweichung in Stetten betrug insgesamt nur 2,44 Prozentpunkte, so nahe am Bundesergebnis war keine andere Gemeinde dran. Selbst gut ausgewählte, repräsentative Umfragen haben bei 1000 Befragten eine höhere Schwankungsbreite. Zumindest aus einer Politik-Perspektive heraus betrachtet, verdichtet sich also in Stetten im Bezirk Korneuburg das ganze Land.

Thomas Seifert, seit fünf Jahren Bürgermeister von Stetten, muss etwas schmunzeln, als er die Wahlergebnisse betrachtet. Die Balken sind nahezu identisch. Warum wählt seine Gemeinde genau so wie Österreich? Ratlosigkeit. "Keine Ahnung. Das war Zufall", sagt er. Er ist nicht der Einzige im Ort, der überfragt ist. Und es ist tatsächlich ungewöhnlich. Österreich wählt doch sehr unterschiedlich. Es gibt die schwarzen, die roten, die blauen Hochburgen, die Summe ergibt dann das Bundesergebnis. Im benachbarten Bisamberg betrug die Abweichung vom Gesamtergebnis mehr als 29 Prozentpunkte. SPÖ und FPÖ erhielten dort viel weniger Stimmenanteile als im Bund, ÖVP und Neos deutlich mehr.

Durchmischtes Dorf

Andrea Wiedeck hat nach kurzem Nachdenken eine Idee. Sie ist Winzerin und führt mit ihrem Ehemann Johannes einen der sechs Heurigen in Stetten. "Das Dorf ist recht durchmischt", sagt sie. Genau das ist auch ein Teil der Veränderung. Die Gemeinde ist massiv gewachsen, es sind vor allem junge Familien zugezogen, vor allem aus dem nahen Wien. Und der Andrang ist nach wie vor groß: "Ich könnte fast täglich Baugrund verkaufen", sagt der Bürgermeister. Aber natürlich kann er nicht. Es gibt nicht genug.

Flotte Veränderung

Dass heute nicht nur die wahre, sondern auch die politische Landschaft in Österreich eine andere ist, ist wohl zu einem wesentlichen Teil auf diese schleichende Veränderung zurückzuführen. Sie sieht überall anders aus, in Stetten nicht wie in Wien, in Westösterreich nicht wie im Osten. Natürlich, die Gesellschaft ist nie stehengeblieben. Sie hat sich ständig weiterentwickelt, verändert. Doch Veränderung ist heute kein Synonym mehr für Fortschritt. Zumindest für viele Menschen nicht.

Franz Jatschka ist einer jener Stettner, der nie woanders gelebt hat. Er ist seit 1956 hier. Da wurde er geboren. Er war Weinhauer, Landwirt und auch Heurigenwirt. Und er war 17 Jahre lang in der Gemeindepolitik. Für eine Bürgerliste. "Ich bin der SPÖ zu rechts und der ÖVP zu links", sagt er. Er kann sich an ein ganz anderes Stetten erinnern: "Früher gab es zwei Gasthäuser, zwei Bäcker, zwei Schuhmacher und drei Kaufhäuser", erzählt er. Der Baugrund habe 20 Schilling pro Quadratmeter gekostet, und die Gemeinde hat ihn nur an Verheiratete vergeben. Einer der beiden musste Stettner sein. "Heute ist alles anders", sagt er, und: "Es ist schnell gegangen."

Rote Gemeinde wählte Türkis

Jatschka kann sich erinnern, dass es schon früher Wahlen gab, bei denen Stetten im Bundestrend lag. Es kann also nicht nur der Zuzug sein. Auch die Historie hat ihre Spuren hinterlassen. An der Volksschule, zugleich das Gemeindeamt, ist ein altes Fassadenbild zu sehen, das Hochspannungsleitungen zeigt. Das Umspannwerk hat einst vielen Menschen hier Arbeit geboten, heute ist praktisch alles automatisiert. Viele Stettner arbeiteten auch in der nahegelegenen Werft in Korneuburg, sagt Jatschka. Fast alle wählten sozialdemokratisch. In der Gemeinde tun es die Stettner nach wie vor, Seifert ist Gewerkschafter und gehört der SPÖ an. Auch sein Vorgänger war Sozialdemokrat. Nicht alles ändert sich also.

Doch insgesamt hat das Tempo der Veränderung natürlich stark zugenommen. Noch im Jahr 1999 war Stetten ein "verschlafener Ort", wie es Bürgermeister Seifert formuliert. Es gab weniger als 1000 Einwohner, das ist eine für Gemeinden wichtige Grenze. Kommunen mit vierstelligen Einwohnerzahlen erhalten mehr Bedarfszuweisungen. Die Gemeinde begann mit aktivem Wohnbau, eine Siedlung nahe der Kirche wurde errichtet. "Wir haben einen kleinen Boom geschaffen", sagt Seifert. Heute, nur 20 Jahre später, wohnen mehr als 1300 Menschen in Stetten. Das sind um rund 50 Prozent mehr als 1999. Umgelegt auf Wien würde dieses Wachstum bedeuten, dass in der Hauptstadt heute 2,4 Millionen leben müssten. Wien steht aber erst bei 1,8 Millionen Einwohner.

Für die Stadt Wien bedeutet selbst das mit Stetten vergleichsweise moderate Wachstum eine enorme Herausforderung, gerade im Bildungsbereich. Wien kommt mit dem Schulbau kaum nach. Für Stetten hatte der Zuzug eine andere Konsequenz: Das Bevölkerungswachstum machte die Wiedereröffnung der lange geschlossenen Volksschule überhaupt erst möglich. "Das wollten wir unbedingt", erzählt der Bürgermeister.

Ideale Verkehrsanbindung

Vor rund zehn Jahren hat sich die bereits zuvor nicht so schlechte Verkehrsanbindung noch einmal verbessert durch den Bau der S1. Schon davor hatte die Gemeinde ein Gewerbegebiet erschlossen, auf dem sich bekannte Firmen wie der Seilbahn-Weltmarktführer Doppelmayr niedergelassen haben. Früher gab es zwar dort ein Ziegelwerk, aber das liegt schon sehr viele Jahrzehnte zurück.

© Tatjana Sternisa

Ein schönes Entrée für die Fahrt nach Stetten bildet dieses Gewerbegebiet nicht gerade, doch es bringt Geld. Die kleinen Betriebe, das Kaufhaus, der Schuhmacher, sind längst weg, und welche Gemeinde nur von Ertragsanteilen und Bedarfszuweisungen lebt, kann keine großen Sprünge machen. Stetten aber kann investieren.

Ein altes, aufgelassenes Café hat die Gemeinde erworben und eine Arztpraxis darin eingerichtet. Jetzt hat Stetten wieder eine Allgemeinmedizinerin mit Kassenvertrag. Mitten im Ort. "Das hat uns 280.000 Euro gekostet", sagt Seifert. Ohne die Steuermittel aus dem Gewerbegebiet wäre so eine Investition kaum zu stemmen. "Und es sind immerhin ein paar hundert Arbeitsplätze", sagt Seifert. Auch das ist relevant.

Ob eine Gemeinde öffentliche Gelder in eine private Arztpraxis stecken soll, ist eine heikle Frage. Stetten ist hier keineswegs allein. Es gibt einige Gemeinden, die sogar ein Gasthaus bezugsfertig hergerichtet haben, um es an Private zu verpachten. Oder den Bankomaten subventionieren, damit die Einwohner weiterhin Bargeld beheben können. Doch was ist die Alternative? Keine Ärztin? Kein Bargeld? Kein Wirtshaus? Gerade in der ländlichen Peripherie ist das oft Realität. Diese Art der Veränderung wird von niemandem als positiv empfunden, man kann sie sich auch nicht schönreden. Und sie ist längst, wenn auch eher subkutan, zu einem Wahlmotiv geworden. Und zwar nicht nur hierzulande.

Der Traum vom Bäcker

In Stetten gibt es noch ein Gasthaus, es ist zum Restaurant und Seminarhotel geworden. Die Heurigen sind zwar weniger geworden, aber sie sind wie früher soziale Treffpunkte. Nun gibt es eine Ärztin, die Volksschule und auch noch eine Bankfiliale, wenngleich die Mitarbeiter hier nur ambulant Dienst versehen. Sie kommen bei Bedarf, ansonsten müssen die Stettner mit Maschinen vorliebnehmen. "Das war auch eine Umstellung", sagt der Bürgermeister. Eine kleine vielleicht nur, aber selbst deshalb gab es eine kleine Aufregung.

Das zeigt aber auch, wie sensibel die Menschen sind, wenn es um die Infrastruktur geht, vor allem in ländlichen Regionen. Es ist auch ein Unterschied, ob in Wien ein paar Wirtshäuser zusperren und von Pizzerien ersetzt werden oder ob das einzige Wirtshaus im Dorf schließt. Und niemand aufsperrt. Bürgermeister Seifert hat es auch noch nicht aufgegeben, wieder den Nahversorger zurückzubringen. Ein Bäcker war bereit, einen Kiosk aufzustellen. Es wäre fast wie früher. "Aber es haben sich keine Mitarbeiter gefunden", erzählt Seifert. Heurigenwirt Wiedeck wundert das nicht. "Wer stellt sich am Samstag um sechs Uhr Früh ins Geschäft?"

Für Seifert wäre ein Bäcker in seiner Gemeinde ein Traum. Die Wirklichkeit besteht vor allem aus höher werdenden Kosten. Es ist ein Fakt, dass die Gemeinden immer mehr schultern müssen. "Wir würden ja gern den Kindergarten vergrößern, aber das kostet 700.000 Euro", sagt er. In zahlreichen Gemeinden in Österreich wurden in den vergangenen Jahren Senioren- und Pflegeheime errichtet, Kindergärten mussten erweitert und Horte eingerichtet werden. Einerseits ändern sich die Bedürfnisse der Bevölkerung, andererseits gibt es aber auch bundespolitische Entscheidungen, die von Gemeinden (teilweise) finanziert werden müssen. So hat etwa auch das Regressverbot, das vor der Nationalratswahl 2017 beschlossen wurde, die Gemeinden belastet (der Bund sicherte später Zahlungen zu).

Zusammenarbeit notwendig

Dazu muss auch die bestehende Infrastruktur erhalten werden. Die Wasserleitungen, der Fußballplatz, das Schwimmbad und so weiter. Ein Schwimmbad hat es in Stetten nie gegeben. Immerhin eine Sorge weniger. Das Berndl-Bad in Korneuburg ist zudem sehr nahe. Ein Schwimmbad wäre für Stetten auch gar nicht zu finanzieren. Das zeigt ein Blick nach Korneuburg, das zuletzt eine Verlustabdeckung von rund 450.000 Euro für das Hallen- und Freibad ins Budget schreiben musste. Das entspricht der Hälfte der gesamten Grundsteuereinnahmen Korneuburgs.

Es gibt mittlerweile etliche Bereiche der Daseinsvorsorge und Infrastruktur, die für kleine, aber auch etwas größere Gemeinden nicht alleine zu finanzieren sind. Natürlich wäre es sinnvoll, dass sich mehrere Gemeinden ein Schwimmbad teilen, im Fall des Berndl-Bads ist aber nur Bisamberg mit 20 Prozent beteiligt. In der Realität erweist sich die Zusammenarbeit mehrerer Gemeinden oft als schwierig. Es gibt sie, auch in Stetten, und es geht auch gar nicht mehr ohne. Allerdings gibt es in Sachen interkommunaler Zusammenarbeit noch sehr viel Luft nach oben.

Mehr Kinder als früher

Stetten hat mit mehreren Gemeinden ein Verkehrskonzept erarbeitet, gemeinsam betreibt man ein Anrufsammeltaxi, nachdem es keinen öffentlichen Verkehr mehr gibt, der den heutigen Mobilitätsanforderungen entspricht. Ein Regionalentwicklungsverband von insgesamt zehn Gemeinden ("Zehn vor Wien") arbeitet seit Jahren im Sinne der gesamten Region, daraus entstanden ist etwa auch die "Fossilienwelt", ein archäologisches Museum am Ortsrand von Stetten. Es liegt inmitten des Gewerbegebietes, das man sich mit der Nachbargemeinde Tresdorf teilt. Aber das ist eher ein gutes Neben- als ein echtes Miteinander.

Denn interkommunale Zusammenarbeit in ihrer letzten Ausbaustufe hieße auch eine gemeinsame Raumplanung samt Aufteilung der Kommunalsteuern. Schließlich soll möglichst sparsam mit kostbarem Boden und Natur und möglichst effizient mit öffentlichen Geldern umgegangen werden. Es gibt einige solcher Beispiele, etwa in Osttirol in der Region Lienz, aber sie sind rar. Es wäre tatsächlich eine riesige kommunalpolitische Veränderung, eine sinnvolle und mittlerweile auch notwendige.

Die Veränderung, die Stetten erlebt hat, ist keine negative. "Man sieht wieder mehr Kinder", erzählt Heurigenwirtin Andrea Wiedeck. Und Ehemann Johannes Wiedeck sagt: "Bei manchen Siedlungen ist es vielleicht zu schnell gegangen, aber es hat sicher was gebracht." An diesem Montag ist sein Heuriger auch fast bis auf den letzten Tisch gefüllt. Adelheid Pfaffl, die mit ihrem Mann das gleichnamige Weingut im Ort aufgebaut hat, das größte in Stetten, schwärmt geradezu: "Man fühlt sich hier schon sehr wohl. Und jetzt kommt Leben hinein."

Verkehr als Negativthema

Aber, natürlich, auch eine positive wirtschaftliche Entwicklung und Ansiedlungen bringen nicht nur Gutes. Es bringt vor allem: Verkehr. "Das will man nicht", sagt Franz Jatschka. Und auch der Bürgermeister weiß, dass dieser der Bevölkerung teilweise schon zu viel geworden ist. In den noch stärker betroffenen Nachbargemeinden Tresdorf und Harmannsdorf soll eine Ortsumfahrung gebaut werden, eine Bürgerinitiative dagegen hat sich aber auch schon formiert. Das Verkehrsthema ist kommunalpolitisch sehr bedeutsam geworden. Einerseits will man möglichst gut angebunden sein, andererseits seine Ruhe haben. "Tja, der Verkehr", sagt Johannes Wiedeck. "Alle raunzen immer, aber es gab immer schon Verkehr. Und wir haben bitte eine Autobahn vor der Haustür, wo gibt’s denn das?" Wie die Bevölkerung auf Veränderungen reagiert, ist individuell oft verschieden.

Der Weinhauer Franz Jatschka wirkt ambivalent. Vielleicht, weil er noch wirklich ein ganz anderes Stetten kennengelernt hat. Er sagt nicht, dass ihm Stetten heute weniger gefällt. "Es ist anders." Dann stellt er eine Frage in den Raum: "Ob anders immer besser ist?" Eine Antwort gibt er nicht.