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Pflege als Pflegefall

Von Karl Ettinger

Politik
© stock.adobe/ipopba

Der wachsende Personalbedarf gilt als noch größere Herausforderung als die Finanzierung. Ein ungelöstes Problem kehrt im Wahlkampfendspurt zurück.


An einem millionenteuren Wahlzuckerl im Pflegebereich kaut der Staat nach wie vor. Vor der Nationalratswahl 2017 wurde im Eiltempo die Abschaffung des Pflegeregresses im Parlament beschlossen. Damit gibt es seit Anfang 2018 keinen Zugriff mehr auf Vermögen der Bewohner von Pflegeheimen. Vom Bund wurden später Ländern und Gemeinden als Ersatz für Regresseinnahmen bis zu 240 Millionen Euro für 2018 zugestanden. Jetzt steht die Nationalratswahl vor der Tür. Erst in der Vorwoche sind im parlamentarischen Budgetausschuss die Weichen gestellt worden, dass die Mittel auch für 2019 und 2020 als Ersatz für den Pflegeregresses fließen.

Die Einzelmaßnahme 2017 hat Folgen. Hingegen ist die von der türkis-blauen Bundesregierung für diesen Herbst angekündigte umfassende Pflegereform dem Platzen der Koalition zum Opfer gefallen. Damit bleibt die Pflege für die neue Regierung ein Pflegefall. Jedenfalls ist die Lösung der Probleme aufgeschoben. Das betrifft die Finanzierung der steigenden Kosten ebenso wie die Frage, woher künftig genügend Pflegepersonal kommt.

Expertin: "Brauchen professionelle Pflegekräfte"

Nun ist knapp vor der Nationalratswahl das Thema Pflege wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt. Auslöser war der Vorstoß der ÖVP, wonach künftig an pflegende Angehörige ein Bonus bis zu 1500 Euro im Jahr ausbezahlt werden soll. Monika Riedel, Pflegeexpertin am Institut für Höhere Studien (IHS), macht im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" kein Hehl daraus, dass sie einen punktuellen Vorschlag vor der Wahl nicht für besonders sinnvoll hält. "Ich würde lieber das Gesamtsystem anschauen", empfiehlt Riedel. Es solle in Ruhe durchdacht werden, ob das wirklich der beste Vorschlag sei. "Es darf halt nicht dazu verleiten, dass wir den pflegenden Angehörigen den vergleichsweise geringen Bonus geben und vergessen, dass wir eigentlich professionelle Pflegekräfte brauchen", warnt sie.

Wie auch andere Fachleute hält Riedel die Lösung des Personalproblems für wichtiger als die Frage der Finanzierung im Pflegebereich. "Das Geld pflegt ja niemanden", gibt Riedel zu bedenken. Laut Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) sind bis zum Jahr 2030 in der mobilen und stationären Pflege 24.000 Pflegekräfte zusätzlich notwendig. Basis des Berichts der Wifo-Experten Ulrike Famira-Mühlberger und Matthias Firgo war, dass es 2017 rund 63.000 Pflegekräfte gab. Bis 2050 wird laut dieser Wifo-Prognose sogar ein zusätzlicher Personalbedarf von 79.000 Pflegekräfte erwartet.

"Notwendig ist, dass wir uns die professionellen Pflegekräfte sichern können", betont Riedel. Vor allem gelte es, diese auf dem heimischen Arbeitsmarkt zu finden. Denn auch in den Herkunftsländern der Pflegekräfte im Ausland werde künftig vermehrt dieses Personal gebraucht. Bisher hat man sich in Österreich etwa bei der 24-Stunden-Betreuung, die allerdings nur von fünf Prozent der Betroffenen in Anspruch genommen wird, mit Pflegepersonal aus dem osteuropäischen Ausland beholfen. 80 Prozent der Pflegerinnen kommen aus der Slowakei und Rumänien.

Die demografische Entwicklung verschärft die Situation. Laut Prognose der Statistik Austria werden 2020 in Österreich fast 510.000 Menschen leben, die 80 Jahre oder älter sind. Bis 2024 werden 584.000 Menschen dieses Alter erreichen. Aufgrund der Alterung wird weiter mit stark steigenden Kosten gerechnet. Bisher betragen die Ausgaben der öffentlichen Hand rund fünf Milliarden Euro, davon entfallen zwei Milliarden Euro allein auf das Pflegegeld des Bundes. Das Wirtschaftsforschungsinstitut hat für Länder und Gemeinden bis 2050 einen Kostenanstieg auf neun Milliarden Euro prognostiziert - mit besonderer Dynamik ab 2025.

In Österreich haben rund 463.000 Menschen im Juli dieses Jahres Pflegegeld bezogen, das in sieben Stufen je nach Ausmaß des Pflegeaufwandes ausbezahlt wird. Tatsache ist, dass der weitaus größte Teil der pflegebedürftigen Menschen daheim betreut wird, nämlich gut 80 Prozent. Rund ein Drittel greift dabei auf die Unterstützung durch mobile Dienste zurück. Bei fast der Hälfte erfolgt die Betreuung allein durch Angehörige. Die Zahl der pflegenden Angehörigen wird mit 800.000 bis 950.000 Menschen beziffert. Ohne sie wäre die Pflege in Österreich gar nicht möglich.

Genau an diese Gruppe richtet sich der ÖVP-Plan, ab Pflegestufe drei einen Bonus von 1500 Euro im Jahr zuzahlen. Die meisten Bezieher von Pflegegeld gibt es freilich in den Stufen eins mit knapp 130.000 sowie in der Pflegestufe zwei mit rund 100.000 Betroffenen. Für diese wäre ein abgestufter Bonus mit 500 beziehungsweise 1000 Euro vorgesehen. Kritiker und politische Gegner werfen der ÖVP vor, damit werde erst recht den pflegenden Angehörigen die Hauptlast aufgebürdet. Es müssten vor allem die mobilen Dienste bundesweit zur Unterstützung ausgebaut werden.

Konflikt um Versicherung oder Steuerfinanzierung

Politischer Hauptkonfliktpunkt ist die Finanzierung. SPÖ, Grüne und Liste Jetzt treten dafür ein, Pflege aus Steuermitteln zu finanzieren. Die SPÖ will dafür eine Milliarde zusätzlich aus einer Steuer auf Erbschaften ab einer Million Euro lockermachen. Die FPÖ möchte Mittel aus dem Gesundheitsbereich zur Pflege umschichten.

Die ÖVP peilt eine Pflegeversicherung als eigene Säule in der Sozialversicherung an, wobei Mittel aus der Unfallversicherung umgeschichtet werden sollen, aber auch Geld aus dem Budget beigesteuert wird. IHS-Expertin Riedel sieht Vorteile einer steuerfinanzierten Variante: "Die Flexibilität ist größer für den Staat, wenn es nicht aus einer Quelle ist." Damit werde die gesamte Bevölkerung einbezogen. "Ich erkenne den großen Vorteil einer Versicherungslösung nicht", meint sie mit Hinweis auf das deutsche Modell. Im Sozialministerium wird zur Finanzierung im November eine noch von der türkis-blauen Regierung in Auftrag gegebene Studie erwartet, die auch Basis für die neue Regierung sein wird.

Grundsätzlich drängen vor allem Hilfsorganisationen zur Unterstützung pflegender Angehöriger auf den Ausbau einer qualitativ einheitlichen, flächendeckenden Betreuung außerhalb der Pflegeheime. So hält es Caritas-Präsident Michael Landau im Rahmen eines "Masterplans Pflege" für besonders wichtig, die Lücke zwischen mobilen Diensten und 24-Stunden-Betreuung zu schließen. Das betrifft etwa Angebote teilstationärer Betreuung. Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger fordert unter anderem ein bundesweites Qualitätsangebot mobiler und teilstationärer Pflege sowie einen Rechtsanspruch auf ausreichend Unterstützung von Angehörigen durch Pflegedienste.

Rechtsanspruch auf Unterstützung wird gefordert

Die Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger verlangt nicht zuletzt weitere Verbesserungen zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Dazu zählt ein Rechtsanspruch auf Unterstützungsleistungen. Das gelte sowohl für die 2014 eingeführte Pflegekarenz und Pflegeteilzeit. Zur Entlastung der Angehörigen sollen diese aber auch ein Recht auf einen pflegfreien Tag pro Monat erhalten, an dem die öffentliche Hand die Pflege sicherstellen müsse.

Das Sozialministerium betont, es gebe seit 2016 Gratis-Beratung, was aber "noch nicht sehr bekannt" sei. Zwei Angebote bestehen: Beratung und Information von Pflegegeldbeziehern bei Hausbesuchen mit konkreten Tipps durch diplomiertes Personal. 2018 gab es rund 19.000 Hausbesuche. Zusätzlich gebe es seit 2016 das kostenlose "Angehörigengespräch". 2018 wurden 1472 Angehörigengespräche geführt, seit 2014 gut 5000.

Eines steht für die 463.000 Bezieher von Pflegegeld immerhin fest. Das Pflegegeld wird in allen Stufen ab 2020 valorisiert. Das bedeutet ab 1. Jänner kommenden Jahres eine Erhöhung um 1,8 Prozent. Zumindest dieser Beschluss erfolgte vor der Sommerpause des Nationalrats einstimmig.