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"Lernt aus der unnötigen Starrheit, die wir in Deutschland haben"

Von Jan Michael Marchart

Politik
Für Michael Hüther haben die deutschen Budgetüberschüsse nur wenig mit der Schuldenbremse zu tun.
© iwkoeln.de/Uta Wagner

Der Ökonom Michael Hüther empfiehlt Österreich eine Schuldenbremse in der Verfassung. Aber nicht um jeden Preis.


Wer hätte gedacht, dass einmal jemand als Posterboy (© Handelsblatt) bezeichnet wird, der einerseits ein Ökonom von 57 Jahren ist und andererseits Staatsschulden gar nicht so schlecht findet. Ausgerechnet Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), stellt sich gegen die Schuldenbremse, die in Deutschland politisch zehn Jahre lang als sakrosankt galt. Lange Zeit war sie das auch für ihn selbst. Hüther will die Schuldenbremse nicht abschaffen, aber verändern, was ausreicht, um Deutschland zu verwirren.

In Österreich wollen ÖVP, FPÖ und Neos die Schuldenbremse in die Verfassung schreiben. Eine solche existiert hierzulande seit Jahren einfachgesetzlich, realpolitisch spricht nur niemand darüber. Den Verfassungsrang dürfte das Vetorecht der SPÖ im Bundesrat aber ausbremsen. Ist das nun ein Glück oder ein Fehler?

"Wiener Zeitung": Herr Hüther, vor einigen Jahren forderten Sie, die Schuldenbremse auf ganz Europa auszuweiten. Heute sagen Sie, dass die "Verteufelung der Schulden nicht mehr zeitgemäß" ist. Deutschland hat seit zehn Jahren eine Schuldenbremse im Grundgesetz. Was hat sich geändert?Michael Hüther: Zunächst, die Staatsverschuldung Deutschlands erreicht wieder die EU-Maastricht-Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist der Unterschied zu Österreich, das noch mehr als 13 Prozentpunkte darüberliegt. Deutschland hat außerdem seit 2012 einen ausgeglichenen Staatshaushalt und produziert Überschüsse. Das sind die Parameter, die sich verändert haben. Die Schuldenbremse bei uns ist so organisiert, dass die Haushalte von Bund und Ländern in konjunktureller Normallage ausgeglichen sein müssen. Das bleibt grundsätzlich richtig. Sie lässt aber wenig Spielraum für Investitionen. So ist die Schuldenbremse eine Investitions- und eine Steuersenkungsbremse. Ich will die Schuldenbremse nicht aufgeben. Aber ich will sie stärker für Investitionen öffnen.

In Österreich gibt es eine einfachgesetzliche Variante der Schuldenbremse, über die politisch kaum gesprochen wird und die in den vergangenen Jahren mal knapper, mal weniger knapp nicht eingehalten wurde. Vor der Wahl bewegten die Parteien mehr als drei Milliarden Euro für nicht budgetierte Maßnahmen. Nun gibt es Bestrebungen, die Schuldenbremse in die Verfassung zu schreiben. Ein richtiger Schritt?

Zu einer Schuldenregel in der Verfassung sage ich ja. Mit einem Anker in der Verfassung bekommt ein darauf bezogenes Gesetz eine andere Qualität und öffentliche Wahrnehmung. Man sollte aber keine Detailregelung in die Verfassung schreiben, sondern nur die Grundidee. Aber lernt aus der unnötigen Starrheit, die wir in Deutschland haben. Realpolitisch sieht das so aus, dass die einen keine Steuersenkungen hinbekommen und die anderen ständig die Sozialausgaben erhöhen. Die Investitionen sind die notleidende Struktur. Das kann es ja auch nicht sein. Die Schuldenbremse gehört für Investitionen geöffnet. Zumal in einer Zeit, in der die Zinsen unter der Wachstumsrate liegen, belastet das grundsätzlich die künftigen Generationen nicht. Das ist in Deutschland wie in Österreich so.

Sie sagen aber auch, dass die Schuldenbremse ein "Misstrauensvotum gegenüber dem politischen System" ist. Wie meinen Sie das?

Das Budgetrecht ist der Kern der demokratischen Selbstgestaltung eines Landes. Darum muss stets gerungen werden. Sich die eine Restriktion aufzuerlegen, keine Schulden zu machen, ist ein Misstrauensvotum der Politik an sich selbst nach dem Motto: Wir schaffen es alleine nicht. Man sollte es sich überlegen, ob es klug ist, dieses Gefühl in einem Kernbereich zu ergänzen, in einer Zeit, wo der Politik aus vielen Ecken zugerufen wird, dass sie es nicht kann. Ob das nun das Klima betrifft oder die Zuwanderung.

Aber ist es dann nicht ein viel größeres Misstrauensvotum, wenn Österreich gerade jetzt die Schuldenbremse in die Verfassung schreibt?

Klar. Aber man könnte damit argumentieren, dass Österreich noch in der Not ist. Das Maastricht-Ergebnis ist noch ein Weg. Österreich hat etwas mehr als zehn Prozentpunkte vom Höchststand (2015: 84,7 Prozent Staatsverschuldung Anm.) runtergeschafft. Eigentlich wäre die Devise einmal, das günstige Zinsniveau dafür zu nutzen, Überschüsse zu erwirtschaften und die Schuldenstandquote maastrichtkonform zu machen. Dann kann man über eine sinnvolle Investitionsstrategie nachdenken.

Nun hat Deutschland Überschüsse produziert. Wie viel hat das wirklich mit der Schuldenbremse zu tun?

Die Schuldenbremse hat geholfen, weil sie mental in den Haushaltsverhandlungen über Präsenz Wirksamkeit entfaltet hat. Trotzdem wäre es ohne den Arbeitsmarkterfolg Deutschlands nicht möglich gewesen, den Haushalt so auszugleichen. Vor 14 Jahren, als die Agenda 2010 umgesetzt wurde, hatte Deutschland etwas mehr als 38 Millionen Erwerbstätige, heute sind es etwa 45,2 Millionen. Über lange Zeit lag das Steueraufkommen je Einwohner bei 4500 Euro, seit ein paar Jahren sind es mehr als 6000 Euro. Der Erfolg liegt im Kern beim Arbeitsmarkt und ergänzend beim entlastenden Zinsniveau.

Es gibt auch EU-Regeln, die zwar weniger streng sind, aber warum reichen sie nicht aus? Warum braucht es eine nationale Schuldenbremse?

Das Budgetrecht bleibt im Wesentlichen bei den Mitgliedstaaten. Insofern ist die Sanktion bei Nichterreichung der EU-Regeln nicht plausibel und glaubwürdig darstellbar und beispielsweise vom Verfassungsgerichtshof nicht einklagbar. Daher macht es Sinn, hier eine nationale Disziplinierung einzuführen.

Aber welche Konsequenzen hat eine Nichteinhaltung der Schuldenbremse?

Das hängt einerseits davon ab, welche öffentliche Bedeutung sie erfährt. In Deutschland ist sie Teil der öffentlichen Debatte. In Kombination mit dem Begriff "Schwarze Null" geht sie programmatisch noch tiefer, wirklich gar keine Schulden zu machen, was ökonomisch falsch ist. Deshalb tun wir uns auch schwer, da flexibler heranzugehen, weil es als Glaubwürdigkeitsverlust angesehen wird. Andererseits ist ein Regelverstoß beim Verfassungsgericht beklagbar, allerdings kann eine verzögerte Urteilsfindung nur begrenzte Anpassungen bewirken - durch Vorgaben für spätere Budgets.

Nun steht Deutschland vor einer ernst zu nehmenden Konjunkturdelle. Warum sind Sie gerade jetzt dafür, dass sich der Staat mehr verschulden soll? Ist das der richtige Zeitpunkt?

Was wir sehen, ist weniger eine Rezession, sondern ein Einlaufen in eine längere Wachstumsschwäche. Umso mehr muss man fragen, welche Investitionen nötig sind, um das Land zu modernisieren und das Wachstum zu stärken.

Als Lösung schlagen Sie einen "bundesstaatlichen Vermögenshaushalt" vor, in den Investitionen auf zehn Jahre ausgelagert werden sollen. Wie kann man sich das vorstellen?

Neben dem normalen Budget definieren wir eine Art föderalen Vermögenshaushalt. Da packen wir generationenübergreifende Investitionen von Bund, Ländern und Gemeinden in den Bereichen Infrastruktur, Digitales, Energie und Klima hinein. Laufen würde das über eine Anstalt des öffentlichen Rechts, die sich zu denselben Konditionen wie der Staat verschulden kann, aber als eigene Rechtspersönlichkeit und mit eigenem Zweck nicht unter die Schuldenbremse fällt.

Was den Investitionsstau durch die Schuldenbremse anlangt, das sehen einige Ihrer Ökonomie-Kollegen anders. Die Investitionen hätten schon vor der Einführung der Regel abgenommen.

Deutschland hat seit längerem eine Investitionsquote unter dem EU-Schnitt. Es ist kein Argument gegen meinen Vorschlag, mehr zu tun, wenn die Investitionsquote schon vorher zurückgegangen ist. Wir haben jetzt andere Aufgaben als vor zehn, zwölf Jahren. Die Infrastruktur wurde in den 50er und 60er Jahren gebaut, da stehen grundlegende Renovierungen an. Bei der Digitalisierung glaubten viele, das macht der Markt. Träumt weiter! Das wird sich nicht von alleine machen. Der Klimawandel und die Energiewende sind mit enormen Kosten verbunden. Dem müssen wir Rechnung tragen.

Zur Person: Michael Hüther ist seit 2004 Direktor und Mitglied des Präsidiums des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Darüber hinaus sitzt Hüther etwa im Aufsichtsrat der Allianz Global Investors Kapitalanlagegesellschaft. Davor war er unter anderem Chefvolkswirt der DekaBank in Frankfurt am Main.