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Vorarlberg ist anders

Von Karl Ettinger und Martina Madner

Politik

Schwarz-Grün im Fokus der Landtagswahl: Von der Wirtschaft bis zum Verkehr geht das Ländle meist eigene Wege.


Ganz Österreich schaut mit besonderem Interesse nach Vorarlberg, wo am Sonntag 270.000 Wahlberechtigte ihren Landtag wählen. Der ungewöhnlich genaue Blick auf die Politik hinter dem Arlberg hat einen Grund: Es geht darum, wie die Premiere der schwarz-grünen Koalition politisch an der Wahlurne bewertet wird - weil diese für ÖVP und Grüne im Bund vorbildhaft sein kann.

Tatsächlich richtete Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) der künftigen Bundesregierung erst zuletzt bei der TV-Konfrontation der Landesspitzenkandidaten aus, dass "man von Vorarlberg ein bisschen lernen" kann. Denn es gebe eine "optimale Verbindung" zwischen guter Wirtschaftskraft, einer Politik, die "sozial und menschlich ist" und vernünftiger Umweltpolitik: "Diese Dreierkombination ist etwas, das man in Zukunft haben muss."

Und genau diese Zukunft scheint in Bregenz schon auf Schiene - noch bevor gewählt wird. Für den 6. November ist in Vorarlberg die konstituierende Sitzung des neuen Landtags angesetzt. Wallner rechnet damit, dass in nicht einmal vier Wochen die Regierungsbildung zu schaffen sei. Auf Bundesebene gehen die meisten politischen Beobachter davon aus, dass sich der Weg zur nächsten Koalition in die Länge ziehen wird. Die Grünen haben sogar schon gewitzelt, dass die Suche nach einer Koalition im Fall der Fälle bis Ostern dauern könnte. Vorarlberg ist anders.

Kooperieren statt konkurrieren

Dass man in Vorarlberg rasch bei der Sache ist, war auch schon bei den Regierungsverhandlungen vor fünf Jahren so, berichtet Kathrin Stainer-Hämmerle, Politikwissenschafterin und Fachhochschul-Professorin in Kärnten, außerdem gebürtige Vorarlbergerin. In zehn Tagen hatten ÖVP und Grüne die Koalition paktiert. Und das obwohl insbesondere Johannes Rauch und den Vorarlberger Grünen dabei in Sachen Kompromissfähigkeit viel abverlangt wurde: "Bei den Verkehrprojekten sind sie der ÖVP weit entgegengekommen", sagt Stainer-Hämmerle. Grünnahe Bürgerinitiativen bekämpfen die seit Jahrzehnten diskutierten und geplanten Autobahn-Anbindungen in Richtung Schweiz - trotzdem werden die Projekte von den Grünen mitgetragen.

Die kooperative Kraft ist in Bundesländern speziell, wie Peter Bußjäger, Innsbrucker Professor für Staats- und Verwaltungsrecht und Föderalismusexperte, hervorhebt. Zwar gibt es den Parteienproporz, wonach alle Parteien ab einer gewissen Stimmenstärke automatisch in der Landesregierung vertreten sind, kaum noch. Dennoch wirkt dieser Geist der Zusammenarbeit nach jahrzehntelanger Tradition weiter. "Es besteht auf der Landesebene eine größere Kooperationskultur und weniger eine Konfliktkultur, als es auf Bundesebene ist", formuliert er. Das wirke sich grundsätzlich aus.

Wobei Vorarlberg unter den Bundesländern ein Sonderfall ist, wie der gebürtige Vorarlberger Bußjäger hervorhebt. Denn im Ländle habe die ÖVP trotz absoluter Mehrheit über Jahrzehnte hinweg eine freiwillige Zusammenarbeit zuerst mit FPÖ und SPÖ, ab Mitte der Siebziger Jahre nur noch mit den Freiheitlichen praktiziert. Nach der Landtagswahl 2014 brauchte die ÖVP dann einen Koalitionspartner - und fand diesen eben in den Grünen.

Wobei Stainer-Hämmerle sagt: "Die Vorarlberger Grünen sind Bürgerliche." Das waren sie von Beginn an: Schon der erste Vorarlberger Grüne, der Bregenzerwälder Bergbauer Kaspanaze Simma kam aus der konservativen Vorgängerorganisation, den "Vereinten Grünen Österreich" und nicht der progressiveren "Grünen Alternative". Nicht mit linken Ideen, sondern Umweltschutz zog er mit 13 Prozent 1984 in den Landtag ein.

Pragmatisches Regieren

Marcelo Jenny, ebenfalls aus Vorarlberg, der sich an der Universität Innsbruck mit Wahlen und Parteien auseinandersetzt, bezeichnet diesen bürgerlicheren Zugang als "Schwarz-Grün" im Unterschied zu "Rot-Grün" wie zum Beispiel in Wien. Vor fünf Jahren haben die Grünen mit ihrem bodenständig-bürgerlichen Ansatz mit 17,1 Prozent ihr bislang bestes Landesergebnis erzielt. Das wurde bei den Nationalratswahlen nun mit 18,1 Prozent und einem Plus von 10,9 Prozentpunkten gegenüber 2017 nochmals getoppt - ob es sich nun rächt, wird sich zeigen. Jenny glaubt nicht daran: "Der Pragmatismus ist bei Vorarlbergern stark ausgeprägt." Rauch scheint genau das zu sein: "Ein grüner Pragmatiker, der nicht auf Grundsätzen herumreitet", wie es Stainer-Hämmerle formuliert.

Aber auch die Vorarlberger Volkspartei gleicht nicht ihrem seit zwei Jahren türkisen Pendant im Bund. "Auch bei der ÖVP steht die Lösungsorientierung im Vordergrund", sagt Jenny. Das habe sich zum Beispiel gezeigt, als es um die Abschiebungen gut integrierter Lehrlinge und Familien ging: "Da hat man sich nicht auf ideologische Fragen eingelassen, anders als in anderen Bundesländern nicht gesagt: ‚Wir wollen das nicht‘, sondern: ‚Wir schaffen das‘."

Nach Abschiebungen aus Vorarlberg musste sich Kurz schon als Kanzler bei Besuchen kritische Fragen gefallen lassen. Auch im Wahlkampf erntete er im Ländle spürbar weniger Applaus als anderenorts. Selbst das türkise Plus bei den Nationalratswahlen fiel im Ländle mit 1,9 und 36,6 Prozent aller Stimmen geringer aus als österreichweit: Da votierten 37,5 Prozent für die ÖVP, 6 Prozentpunkte mehr als 2017. "Diese ideologische Verhärtung wie auf Bundesebene, die gibt es nicht", sagt Bußjäger. Das gelte auch für die Grünen.

Landespolitik ist anders

Politisches Arbeiten im Bund und in Bundesländern sind allerdings auch zweierlei Paar Schuhe, sagt der Föderalismusexperte. Das liegt auch an den unterschiedlichen Kompetenzen, die im Regelfall nicht eine so große Reibefläche bieten: "Dinge, die mit besonders großem ideologischen Ballast verbunden sind, spielen nicht so eine Rolle." In Bundesländern kann man sich zwar um Integration bemühen, für die Asylgesetzgebung und Zuwanderungspolitik ist aber der Bund zuständig. Noch mehr gilt das für Entscheidungen im Steuerrecht: Die Hoheit über die Gesetzgebung hat fast ausschließlich der Bund, den geringen Gestaltungsspielraum bei den Wohnbauabgaben nutzt bislang kein Bundesland, um sich im Wettbewerb mit den anderen hervorzuheben. Das hat auch Vorteile: "Man muss nicht darüber streiten, ob man eine Vermögenssteuer oder eine Erbschaftssteuer einführen will", analysiert Bußjäger. "Das alles kann man relativ leicht auf die Bundesebene delegieren, weil das dort auch rechtlich angesiedelt ist." Daher würden derartige "Streitpunkte auf Landesebene entfallen".

So kann ÖVP-Landeschef Wallner weiterhin keinen Hehl aus einer Absage an Vermögenssteuern machen und damit auf einem anderen Kurs als Koalitionspartner Rauch segeln. Bei den Verhandlungen über eine Bundesregierung aber wird der Steuerkonflikt eine Rolle spielen.

Skepsis gegenüber dem Bund

Freilich hatte sich Vorarlberg schon bislang oft skeptischer gegenüber der Bundespolitik gezeigt als so manch anderes ÖVP-geführtes Bundesland. Bei der Mindestsicherung hat die schwarz-grüne Koalition in Vorarlberg zwar Änderungen vorgenommen - Kritik aus dem Land gab es aber gleich aus mehreren Gründen. Obwohl das Vorarlberger Modell verfassungsrechtlich gut ausgestaltet ist, orientierte sich der Bund erst an dem rechtlich umstrittensten, vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenen niederösterreichischen Modell. Aus christlich-sozialer Tradition kritisierte man das Senken der Kindersätze, aus wirtschaftlicher die für Vorarlberg zu niedrig angesetzten Wohnkosten.

Jenny kennt aber noch etwas, das sowohl die Politik als auch die Bürger hinter dem Arlberg mehr bewegt als in Restösterreich: "Schon immer gibt es die lokale Sorge vor zu viel Zentralismus aus Wien, das kann einem Vorarlberger aus Prinzip nicht schmecken." Sobald das Gefühl entsteht, dass die Bundesgesetzgebung ohne Rücksicht auf die budgetäre Situation der Länder passiert, gibt es Skepsis aus den Bundesländern.

In Sachen Klimaschutz macht Vorarlberg nicht erst seit der schwarz-grünen Regierung sein eigenes Ding, stellt Jenny fest. Verkehr ist ein großes Thema, "das Rheintal ist dicht besiedelt", da sind es zu viele Autos. Gleichzeitig gilt es, viele kleine Orte in Bergregionen zu erreichen. Vorarlberg setzte anders als vergleichbare Bundesländer auf den Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel. Auch auf den Berg fahren Vorarlberger mit dem Bus: "Mit dem Auto kommen die Touristen aus Deutschland."

Aber nicht nur das: Vorarlberg versucht sich als E-Mobilität-Modellregion, hat neben Bundesstraßen eigene, oft auch abgetrennte Radwege realisiert. Das wirkt sich aus: Im Vergleich zu Kärnten, wo sich fast zwei Drittel selbst hinter das Steuer setzen, um von A nach B zu kommen, sind es in Vorarlberg 43 Prozent. In Vorarlberg fahren vier Mal so viele Leute mit dem Fahrrad als in Kärnten, mehr als doppelt so viele mit Öffis, selbst zu Fuß sind mehr Leute unterwegs. Für einen bundespolitischen Rahmen könnte man sich da in klimafreundlicher Verkehrspolitik durchaus etwas abschauen.

Wirtschaftliche Besonderheiten

Nicht nur die Vorarlberger Politik handelt gerne autonom vom Bund. Die Situation vor Ort ist zum Teil tatsächlich eine andere als in anderen Bundesländern, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Die Industrie hat im Verhältnis zur Wirtschaftsgröße einen überdurchschnittlich hohen Anteil am Bruttoregionalprodukt, stellt Robert Schwarz, Volkswirt bei der Unicredit Bank Austria, fest. Das gilt zwar auch für Industrieländer wie Oberösterreich und die Steiermark, aber: "Wegen der größeren Diversifizierung der Industrie und bei den Unternehmen gibt es weniger Volatilitäten in Vorarlberg", sagt Schwarz. Übersetzt bedeutet das: Das Wirtschaftswachstum ist weder von einem großen Unternehmen noch einer Branche abhängig. In der Steiermark dominiert zum Beispiel der Autozulieferer Magna, gerät die Fahrzeugindustrie unter Druck, wirkt das massiv auf den steirischen Arbeitsmarkt, ähnlich abhängig ist Kärnten von Infineon. Anders Vorarlberg: Hier gibt es mit dem Seilbahnenhersteller Doppelmayr, dem Baumaschinen- und Kräne-Produzenten Liebherr, Blum mit Beschlägen bis hin zu Zumtobel mit Lichtkomponenten ein breites Spektrum an großen Unternehmen, die in ihrer Nische zum Teil am Weltmarkt mitspielen.

Der Blick ist auch sonst oft weniger nach Wien gerichtet als gen Westen: In der Schweiz, in Liechtenstein und Deutschland finden die Vorarlberger mehr Forschungspartner als im eigenen Land. Kaufkräftige Schweizer und Deutsche kurbeln den Konsum im Ländle zusätzlich an. Vorarlberg setzt viel mehr auf eigene Facharbeiterausbildung, Zuwanderung hat seit dem Eisenbahnbau Tradition, heute kommen viele Fachkräfte aus Spanien. Auch der internationale Handel ist nicht durchschnittlich, sagt Schwarz: "Einen No-Deal-Brexit würde Vorarlberg deutlicher spüren."

So gesehen kann das Vorarlberger schwarz-grüne Modell auch politisch nur bedingt Vorbild für grün-türkise Bundespolitik sein.

Landtagswahlen in Vorarlberg