Der Fall des Todes eines 13-jährigen Mädchens im Waldviertel habe sie so stark an ihre eigene Jugend erinnert, dass sie nun mit ihrer eigenen Geschichte an die Öffentlichkeit wolle, sagt Anja F. (richtiger Name der Redaktion bekannt.) Die Parallelen, sagt sie, seien unübersehbar: Die Eltern des kleinen Mädchens sind offenbar streng religiös, sie sollen einer sektenähnlichen, radikalen Freikirche angehören. Nun befinden sie sich in Haft. Ihnen wird vorgeworfen, ihrer an einer schweren Bauchspeicheldrüsen-Entzündung leidenden Tochter medizinische Hilfe verwehrt zu haben – aus religiösen Motiven. Die Behörden ermitteln in Richtung Mord durch Unterlassung, für die Eltern gilt die Unschuldsvermutung.

Wie auch Frau F. in ihrer Jugend besuchte das Mädchen keine öffentliche Schule, ihre Eltern nahmen das Recht auf häuslichen Unterricht in Anspruch, das in Österreich per Verfassung prinzipiell jedem offensteht – ohne jegliche Kontrolle abseits der notwendigen Externistenprüfung am Ende des Schuljahres, und ohne, dass die ebenfalls in der Verfassung festgehaltenen Kinderrechte sichergestellt werden. Und genau das, sagt Frau F., sei das Problem.

Was ihr widerfahren ist, hat Anja F. in einer Arbeit festgehalten. Auf über 60 Seiten erzählt sie ihre Geschichte. Davon, wie sie und ihre 18 Geschwister von einem tyrannischen, streng religiösen Vater "erzogen" wurden, der an ihnen seine Aggressionen und seinen Verschwörungsglauben auslebte. Von der Zeit, als die Familie im niederösterreichischen Neulengbach in Lagerräumen hauste, in denen es nicht einmal das Notwendigste an Sanitäranlagen, geschweige denn eine Küche gab. Wie der Vater, der sich als "Vermittler" zwischen Gott und seiner Familie sah, seine Kinder verwahrlosen ließ, und einer drohenden Kindesabnahme zuvorkam, indem er in einer Nacht- und Nebelaktion mit seiner Kinderschar nach Wien verschwand. Dort lebten er, seine Frau und die bald 19 Geschwister schließlich in einer Zwei-Zimmer Wohnung, auf unfassbar engem Raum. Regelmäßig misshandelte der Vater die Kinder in "ritualisierten Bestrafungen", wie Frau F. schreibt. Sowohl ihre älteren Geschwister als auch sie und die Jüngeren wurden regelmäßig grün und blau geschlagen. Knebel im Mund sorgten dafür, dass die Nachbarn davon nichts mitbekamen. Einmal – der Vater hatte in diesem Schuljahr keine Bewilligung des häuslichen Unterrichts erreicht – musste F. nach einer Attacke des Vaters zwei Wochen zu Hause bleiben. Kam das Jugendamt vorbei, wurden jene Kinder, bei denen die Spuren der Misshandlungen allzu offensichtlich waren, "spazieren gehen" geschickt. Diese Kinder seien "frische Luft schnappen", rechtfertigte der Vater deren Fehlen gegenüber den Beamten.

Der Schulbesuch ermöglichte den "Blick nach draußen"

Das alles ist lange her. Anja F. hat die Erlebnisse ihrer Jugend hinter sich, eine langjährige Therapie hat ihr dabei geholfen. Heute ist sie beruflich erfolgreich, ist selbst Mutter.

Ihre akribische Arbeit, in der sie massive Veränderungen beim Recht auf häuslichen Unterricht empfiehlt, sieht sie als Argumentations- und Diskussionsgrundlage für die wie sie sagt dringend notwendige Änderung der gesetzlichen Grundlage des Rechts auf häuslichen Unterricht. Das Papier hat sie an die Parteien, an Experten und auch an die involvierten Behörden verschickt. Ein positives Ergebnis bei der Externistenprüfung, sagt Frau F., gelte nicht nur als Erfolgsnachweis einer gelungenen häuslichen Bildung – sondern auch quasi als Beweis, dass zu Hause alles in Ordnung sei. "Kinder können zu Hause geschlagen und misshandelt werden, und trotzdem bei der Prüfung bestehen und gute Noten bekommen", sagt sie.

Dass Anja F. fallweise doch die Regelschule besuchte, eröffnete ihr einen Blick "nach draußen", wie sie es ausdrückt. Besonders eine Werklehrerin hebt Frau F. in ihrer Arbeit hervor. Es waren schließlich Lehrerinnen und Lehrer wie diese, die Frau F. Perspektive vermitteln konnten, die ihr Vertrauen in ihre Fähigkeiten gaben. Die ihr halfen, das vom tyrannischen Vater vermittelte Weltbild in Frage zu stellen.

Wie auch die Kinder- und Jugendanwaltschaft (Kija), die dazu bereits im September vergangenen Jahres ein Positionspapier veröffentlicht hat, fordert Frau F. eine grundlegende Reform des Bewilligungsverfahrens des häuslichen Unterrichts. Zwingend notwendig seien standardisierte Überprüfungskriterien, die eine lückenlose Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung garantieren. Auch ein institutionelles "Sprachrohr" und eine Begleitung der Kinder im häuslichen Unterricht soll geschaffen werden.

Ein missbrauchsanfälliges Recht im Verfassungsrang 

Genau das fordert auch die Kija – Zugang der Kinder zu Vertrauenspersonen, denen gegenüber sie offen darüber sprechen können, was in der Familie, was zwischen Eltern und Kindern passiert – abseits der Frage, ob der Stoff gleichwertig wie in der Schule vermittelt wird, wie es das Gesetz vorschreibt.

Rund 2300 Kinder werden aktuell in Österreich zu Hause unterrichtet. Das Recht auf häuslichen Unterricht steht im Verfassungsrang. Es ist im Staatsgrundgesetz, Paragraf 17, geregelt – und dieses stammt aus dem Jahre 1867. Für Bernd-Christian Funk ist das Gesetz, das den häuslichen Unterricht nicht nur ermöglicht, sondern die Eltern gleichzeitig auch von der Notwendigkeit eines Befähigungsnachweises entbindet, antiquiert. "Das ist im Grunde genommen ein antiquiertes Regelsystem, das noch aus der Vorstellung des 19. Jahrhunderts kommt, wo adelige und großbürgerliche Familien in der Lage waren, sich Hauslehrer zu halten", sagt der Verfassungsjurist. Und: Der häusliche Unterricht bedeute für die Jugend- wie auch für die Gesundheitsbehörden ebenso eine Kontrollverpflichtung.

Heute sind es keineswegs nur Familien, die lange Auslandsreisen planen, oder Eltern, deren Kinder an Mobbing oder an Krankheiten leiden, die ihre Kinder selbst zu Hause unterrichten. Recherchen der "Wiener Zeitung" zeigten in der Vergangenheit, wie Lais-"Schulen", Lerngruppen, die sich an der aus Russland kommenden, rechtsesoterischen "Anastasia"-Bewegung orientieren, ebenso wie Personen aus dem Staatsverweigerer-Milieu das Recht auf häuslichen Unterricht in Anspruch nehmen – ohne eine Begründung dafür angeben zu müssen. Um die Externistenprüfung abzulegen, pilgerten viele von ihnen nach Wien – die Prüfungsschulen konnte man sich damals noch aussuchen. Seit 1. September hat die Wiener Bildungsdirektion – als bisher einzige in Österreich – dieser Praxis einen Riegel vorgeschoben. Per Verordnung können nun nur mehr Kinder in Wien zur Prüfung antreten, deren Eltern auch in Wien Hauptwohnsitz gemeldet sind. Darüber hinaus, sagen die Bildungsdirektoren mit Verweis auf die Rechtslage, seien ihnen die Hände gebunden.

Meldungen über "Auffälligkeiten" bei der Externistenprüfung?

Gegenüber dem "Standard" hieß es aus dem Bildungsministerium, es gebe Überlegungen, "die Kontrollmöglichkeiten zu verschärfen". Mitglieder der Prüfungskommissionen könnten demnach verpflichtet werden, "Auffälligkeiten" den zuständigen Behörden zu melden.

Ob das ausreicht, ist fraglich. Das Grundrecht häuslicher Unterricht, in all seiner aktuellen Problematik, der Vergabeweg für ansuchende Eltern, werden erst zaghaft in Frage gestellt - trotz aller vorliegenden Fälle. Das Beispiel Anja F. zeigt, wie Risiko-Familien mit den - zuallermeist angekündigten - Besuchen des Jugendamts umgehen. Auch im Fall des verstorbenen 13-jährigen Mädchens konnten die Jugendbehörden keine "Auffälligkeiten" feststellen. Nach einem Krankenhausbesuch habe man dort die Jugendbehörde nicht vor einer weiter bestehenden Gefährdungslage informiert, sagt Peter Rozsa, Leiter der Kinder- und Jugendhilfe Niederösterreich. Der niederösterreichische Krankenanstaltenverbund widerspricht dem, aber Peter Rozsa bleibt bei seiner Darstellung. Für seine Behörde bestehe eben eine enge rechtliche Grenze, sagt er. Auf die Sozialarbeiter habe das Kind immer "einen sehr guten Eindruck" gemacht.