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Gerichte spielen bei Türkis-Grün in heiklen Punkten mit

Von Karl Ettinger

Politik

Bei der Reform der Sozialversicherung und der neuen Sozialhilfe ist jedenfalls der Verfassungsgerichtshof am Zug. Familienbeihilfe für Kinder im Ausland und Standortgesetz könnten beim Europäischen Gerichtshof landen.


Mit dem erneuten Treffen der Delegationen von ÖVP und Grünen an diesem Donnerstag wird die entscheidende Phase bei den Sondierungsgesprächen der beiden Parteien eingeleitet. In vier Runden bis 8. November wird die Basis für die Entscheidung über die Aufnahme offizieller türkis-grüner Regierungsverhandlungen gelegt. Von beiden Seiten, von ÖVP-Obmann Sebastian Kurz und von Grünen-Chef Werner Kogler, wurde bisher das gute Gesprächsklima hervorgehoben.

Inzwischen sind die türkis-grünen Gesprächspartner bei Konfliktpunkten und möglichen Stolpersteinen wie einer ökologischen Steuerreform und dem Sozialbereich angelangt. Kogler hat sich bisher demonstrativ zuversichtlich gezeigt und vorerst keine unüberwindbaren Hürden gesehen. In vier heiklen Punkten wird allerdings aller Voraussicht nach für den Fall türkis-grüner Koalitionsverhandlungen und sogar bei einer künftigen Bundesregierung von ÖVP und Grünen Ungewissheit bleiben.

Einerseits hängen die Urteile des Verfassungsgerichtshofes zu der von der ÖVP-FPÖ-Koalition beschlossenen neuen Sozialhilfe und zur Reform der Sozialversicherung wie ein Damoklesschwert über den Verhandlern und einer künftigen Regierung. Denn vor allem an der Umstellung der bisherigen Mindestsicherung auf die Sozialhilfe mit Verschärfungen für Ausländer durch die Verpflichtung zu Deutschkursen und die Kürzungen für Mehrkindfamilien scheiden sich zwischen ÖVP und Grünen die Geister und könnten im Gefolge eines Höchstgerichtsurteils zum Sprengsatz für eine künftige Regierung werden.

Ab 25. November beratendie Höchstrichter weiter

Andererseits können die Höchstrichter mit ihren Erkenntnissen einer möglichen türkis-grünen Koalition den Weg weisen, welche Regelungen verfassungswidrig sind und repariert werden müssen beziehungsweise welche Vorgaben für die Bundesländer zulässig sind. Der Verfassungsgerichtshof hat die Entscheidungen vorerst vertagt. Ab 25. November wird weiter beraten. Erkenntnisse werden noch vor Weihnachten erwartet. Sie fallen damit womöglich mitten in noch laufenden Regierungsverhandlungen. Türkise und Grüne könnten damit aber auch eine Klärung der Neuregelung der Sozialhilfe zum Auftakt als Stolperstein beiseiteschieben und abwarten, welche Richtung der Verfassungsgerichtshof mit seinen Erkenntnissen vorgibt.

Ähnliches gilt auf europäischer Ebene für zwei andere Regelungen aus der ÖVP-FPÖ-Regierungszeit: konkret für die Indexierung der Familienbeihilfe für Kinder im Ausland, die in vielen Fällen zu einer Kürzung führt, sowie für das Standortentwicklungsgesetz, das Umweltverfahren beschleunigen soll. In beiden Fällen laufen EU-Vertragsverletzungsverfahren, die vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) landen könnten. Bis zu einem Urteil würde es dann allerdings vermutlich länger dauern. Die Verhandler könnten eine Entscheidung bis dahin aufschieben.

Sozialhilfe: Die SPÖ-Bundesräte haben mit Drittelstärke die von ÖVP und FPÖ beschlossene Regelung beim Höchstgericht angefochten. Dies unter anderem, weil es wegen der vielen Details dem Wesen eines Grundsatzgesetzes des Bundes, das den Ländern zu wenig Spielraum lässt, widerspreche. Die Länder haben bis Ende des Jahres Zeit, in diesem Rahmen gesetzliche Regeln zu beschließen. Auf dem Prüfstand steht unter anderem weiters die degressive Kürzung der Sozialhilfe für Bezugsberechtigte, die in Haushaltsgemeinschaften leben. Das Grundsatzgesetz sieht eine Obergrenze bei der Sozialhilfe vor, die für Einzelpersonen bei 885 Euro im Monat und damit auf dem Niveau der Ausgleichszulage liegt. Für Ausländer ohne entsprechende Deutschkenntnisse gibt es um rund 300 Euro weniger Sozialhilfe. In früheren Erkenntnissen hat der Verfassungsgerichtshof Regelungen in Niederösterreich und im Burgenland mit fixen Obergrenzen für Familien mit 1500 Euro sowie eine Wartefrist von fünf Jahren für Ausländer bei der Mindestsicherung als verfassungswidrig aufgehoben.

Ein Hauptkritikpunkt war und ist die gestaffelte Auszahlung der Leistung für Kinder, die ab dem dritten Kind eine Kürzung der Sozialhilfe auf rund 43 Euro zur Folge hat. Während die ÖVP weiter zur neuen Sozialhilfe steht, ist den Grünen speziell diese Regelung ein Dorn im Auge, weil dies Kinderarmut erhöhe. Dem wollen die Grünen jedenfalls entgegenwirken.

Sozialversicherung: Gegen die türkis-blaue Reform, mit der ab 2020 unter anderem die neun Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskassen verschmolzen werden und den Arbeitgebern in Gremien mehr Macht eingeräumt wird, wurden insgesamt 14 Anfechtungen eingebracht. Im Mittelpunkt steht vor allem die Frage, ob damit der Grundsatz der Selbstverwaltung der Sozialversicherung als verfassungswidrig ausgehebelt wird. Gegen die paritätische Vertretung der Arbeitgeber laufen vor allem die SPÖ-Arbeitnehmervertreter Sturm, deren Einfluss in den Gremien und damit bei Entscheidungen deutlich geschmälert wurde. Die ÖVP steht zur Reform, die Grünen können zumindest insofern ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs mit etwas Distanz abwarten, weil sie in den Machtfragen in den Kassen nicht unmittelbar betroffen sind. Experten rechnen nicht damit, dass die Höchstrichter die bereits im Laufen befindliche Zusammenlegung der Sozialversicherung komplett aufheben.

Familienbeihilfe: Vorerst hat die derzeitige Übergangsregierung von Türkis-Blau ein anderes Problem geerbt: Seit Jänner dieses Jahres gilt nach einem Beschluss der türkis-blauen Koalition die Indexierung der Familienbeihilfe für Kinder, deren Eltern in Österreich arbeiten, aber weiter in ihrem Heimatland leben. Damit erfolgt eine Anpassung an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten. Das hat zur Folge, dass vor allem für Kinder in osteuropäischen EU-Staaten die Familienbeihilfe niedriger ausfällt. Seit Jänner dieses Jahres läuft aber bereits ein EU-Vertragsverletzungsverfahren. In einer Stellungnahme nach einem zweiten EU-Mahnschreiben hat die jetzige Bundesregierung die Position der türkis-blauen Koalition bekräftigt. Argumentiert wird dabei, dass es sich bei der Familienbeihilfe um eine Sachleistung handelt, die auf den jeweiligen Bedarf von Kindern abzielt. Man folgt damit der Argumentation des Sozialexperten Wolfgang Mazal, auf dessen Gutachten sich die Neuregelung stützt. Während die EU-Kommission auf dem Standpunkt steht, bei der Familienbeihilfe gehe es um Sozialleistung, die mit Beiträgen finanziert und daher nicht indexiert und gekürzt werden kann, handelt es für Mazal um keine beitragsfinanzierte Versicherungsleistung. Die EU-Kommission wird nun zunächst Österreichs erneute Stellungnahme prüfen. Vorerst ist noch offen, ob der Europäische Gerichtshof angerufen wird. Mazal rechnet aber schon länger damit, dass die Frage der Familienbeihilfe dort landen wird. Die Grünen sind gegen die Indexierung.

Standortentwicklungsgesetz: Um einiges brisanter ist für die Grünen, dass die EU auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich wegen des Standortentwicklungsgesetzes eingeleitet hat. Dieses sieht unter anderem raschere Umweltverträglichkeitsprüfungen für "standortrelevante Großprojekte" vor. Neben anderen Fragen sieht die Kommission in einem zentralen Punk einen Verstoß gegen EU-Regeln. Es geht dabei darum, dass Behörden bei Projekten mit besonderem öffentlichen Interesse dieses Vorhaben nach zwölf Monaten genehmen kann, wenn die Umweltprüfung nicht abgeschlossen ist.

Für Umweltschutzorganisationen ist das der Anlass, dass die Politik das umstrittene Gesetz komplett zurückzunehmen soll. Für Türkis-Grün hat das durchaus Sprengkraft. Denn die Grünen sind damit in ihrem angestammten Umweltbereich unter Zugzwang.