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"Stimmen die Voraussetzungen nicht, kann man kein Kind inkludieren"

Von Petra Tempfer

Politik
© stock.adobe/Animaflora PicsStock

Österreich ist verpflichtet, Menschen mit und ohne Behinderung ein gleichwertiges, gemeinsames Leben zu ermöglichen. Die Abschaffung der Sonderschule scheint im aktuellen Bildungssystem aber schwierig zu sein, sagen auch Betroffene.


Hannes Stribl ist wütend. Er ist um das Wohl seiner Tochter besorgt. Denn die Sonderschule in seiner Heimatstadt Feldkirch in Vorarlberg soll in vier Jahren geschlossen werden, um dem Konzept der "Inklusiven Modellregion" gerecht zu werden - für seine Achtjährige sei es aber "unmöglich, sie mit 20 anderen Kindern zu unterrichten", so Stribl. Sie sei Autistin und wäre dadurch zu sehr abgelenkt, würde keine Fortschritte mehr machen "und regelmäßig austicken". Er sei nicht per se gegen Inklusion - "wenn die Voraussetzungen wie die baulichen als auch pädagogischen Ressourcen nicht stimmen, kann man aber kein Kind inkludieren", meint er.

Das Thema polarisiert - gesellschaftlich und politisch. Grundsätzlich hat Österreich 2008 die Behindertenrechtskonvention der UNO ratifiziert und sich dadurch verpflichtet, allen Menschen ein gleichwertiges und gemeinsames Leben vom Kindergarten bis zur Hochschule zu ermöglichen. Das Wort Inklusion, das genau das bedeutet und bis dahin ein kaum gebrauchtes Fremdwort war, gewann an Bekanntheit. Die viel zitierte Integration, bei der Kinder mit Behinderung noch als "etwas anderes" angesehen werden und integriert werden müssen, wurde überholt.

Kritik des Rechnungshofes

Gleichzeitig geriet die Sonderschule ins Kreuzfeuer der Kritik: Die damalige, rot-schwarze Regierung wollte sie, basierend auf dem Nationalen Aktionsplan (NAP) Behinderung 2012 bis 2020, "langsam" zur Ausnahme werden lassen. Mit dem Koalitionswechsel 2017 wechselte allerdings auch die Einstellung zur Sonderschule: Unter Türkis-Blau wurden "Erhalt und Stärkung des Sonderschulwesens" im Regierungsprogramm verankert.

Dadurch sei ein "Spannungsfeld" entstanden, kritisierte der Rechnungshof (RH) erst vergangenen Februar. Der RH forderte das Bildungsministerium deshalb auf, nach Abschluss des Projekts "Inklusive Modellregionen" in einigen Bundesländern, das der NAP Behinderung vorsieht, "Schlüsse über die einzelnen Maßnahmen zu ziehen und den Inklusionsansatz im Bildungssystem zu präzisieren". Außerdem solle das Ministerium mit den anderen zuständigen Ressorts eine Strategie entwickeln, die das gesamte Bildungssystem umfasst.

Der Evaluationsbericht "Inklusive Modellregionen" werde zur Zeit vom Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des Bildungswesens (Bifie) fertiggestellt, heißt es dazu auf Nachfrage vom Ministerium. Damit die Ergebnisse in die weiteren Entwicklungen in den Bildungsdirektionen einfließen können, werde zudem die "Weiterentwicklung barrierefreier Bildungsmöglichkeiten" im Rahmen der Ressourcen-, Ziel- und Leistungspläne der Bildungsdirektionen verhandelt. Zur Fortführung des NAP Behinderung erfolge im Moment die Abstimmung mit den anderen Ressorts.

Bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und Grünen sei die Zukunft der Sonderschule jedenfalls erneut Thema, sagt Sigrid Maurer von den Grünen - und es könnte spannend werden: Die ÖVP setzte sich für den Erhalt ein, will dazu aber aktuell aufgrund der laufenden Verhandlungen laut Bildungssprecher Rudolf Taschner nicht Stellung nehmen. Die Grünen halten indes an der Abschaffung der Sonderschulen fest, so Maurer zur "Wiener Zeitung". Maurer verhandelt in der Steuerungsgruppe zur Regierungsbildung "Bildung, Wissenschaft, Forschung und Digitalisierung".

Der vorige Regierungspartner FPÖ hatte sich noch während des Wahlkampfes zur Nationalratswahl im September dezidiert für den Erhalt der Sonderschule ausgesprochen. Neos stehen "für das Ziel der Vollinklusion", wie es auf Nachfrage heißt. "Dafür brauchet es aber einen realistischen Plan."

Sonderschule für alle öffnen

Auf dem Weg dorthin sollte man laut Neos die Sonderschulen für das Regelschulwesen öffnen - die dritte Option, die neben dem Erhalt und der Abschaffung immer wieder thematisiert wird und der auch Behindertenanwalt Hansjörg Hofer einiges abgewinnen kann. "Die Ressourcenlage, die hier besser ist, könnte so erhalten bleiben", sagt er. Etwas abzuschaffen sei in Österreich zudem immer schwieriger, als etwas zu verändern. Auch Behindertenorganisationen wie die Lebenshilfe treten für diese Idee der umgekehrten Inklusion ein.

Grundsätzlich ist die Anzahl der Sonderschulen in den vergangenen Jahren stetig gesunken, so die Statistik Austria. Gab es 2003/04 noch 386 Sonderschulen, so schrumpfte diese Zahl auf 325 im Schuljahr 2008/09 und liegt aktuell bei 287. Im Schuljahr 2017/18 besuchten 14.815 Schüler eine Sonderschule und 15.549 eine Integrationsklasse. Insgesamt gibt es 4471 allgemein bildende Pflichtschulen. Der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an diesen Schulen liegt bei etwa 5,4 Prozent.

Dass es einmal keine Sonderschulen mehr geben soll, davon ist auch Martin Ladstätter, Gründungsmitglied und Obmann von Bizeps, dem Zentrum für selbstbestimmtes Leben, überzeugt. Eine frühe "Aussonderung" von Kindern mit Behinderung in Sonderschulen sei keine adäquate Förderung. "Die Kinder gehen danach eins zu eins in Werkstätten." Die Ängste der Eltern verstehe er freilich, so Ladstätter, die Umstellung müsse daher Schritt für Schritt erfolgen. Am Beispiel Kärntens oder der Steiermark sehe man aber, dass es funktionieren könne: In der Steiermark werden 85 bis 90 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in einem integrativen Setting unterrichtet - in Tirol zum Beispiel nur 30 Prozent. In Italien gebe es seit 1977 keine Sonderschulen mehr.

"Wenn Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam lernen und spielen, ist das eine Win-win-Situation", sagt auch Rainer Grubich vom Büro für Inklusive Bildung der Pädagogischen Hochschule Wien. Indem die Kinder ohne Beeinträchtigung eine Mentorfunktion übernähmen, lernten sie in sozialer Hinsicht enorm dazu.

4000 Lehrer fehlen

Bis es so weit ist, müsste sich in Österreichs Bildungssystem aber noch einiges ändern. "So segregierend, wie Schulen heute sind, funktioniert Inklusion nicht", räumt Grubich ein. Vielmehr müsste es altersheterogene Klassen sowohl in der Volksschule als auch der Neuen Mittelschule geben, und an die Stelle von Noten müssten Kompetenzportfolios treten - also eine Verschriftlichung der Kompetenzen des Schülers.

Gleichzeitig müsste man die Lehrer je nach Bedarf flexibler einsetzen, so Grubich. Die neue Lehrerausbildung sei ein wesentlicher Mosaikstein auf dem Weg dorthin: Seit 2015 ist die Ausbildung von Sonderschullehrern Geschichte, stattdessen können sich alle angehenden Pädagogen auf "Inklusive Pädagogik" spezialisieren. Würde man die Sonderschulen abschaffen, würde damit auch das Lehrerproblem für die Integrationsklassen verschwinden, sagt Grubich - "dann werden viele Ressourcen frei".

Im Moment fehlten 4000 Lehrer für "Inklusive Pädagogik", sagt Paul Kimberger, Vorsitzender der Pflichtschullehrer-Gewerkschaft. Dennoch spricht er sich für das Konzept der Sonderschule aus: Man müsse versuchen, jedes Kind individuell zu betrachten und den besten Weg für dieses zu finden - sei es in einer Integrationsklasse oder in einer Sonderschule. "Leider wird diese Diskussion immer über die Ideologie geführt", sagt Kimberger, "und nicht über das Kind."

Seit 1993 können Eltern in Österreich frei wählen, ob ihr Kind mit Behinderung in eine Sonderschule oder Integrationsklasse (meist mit zwei Lehrern) gehen soll. Seit 1996 ist die Integration auch in der Hauptschule (NMS) respektive AHS Unterstufe gesetzlich verankert. Schulen sind allerdings nicht dazu verpflichtet, eine sonderpädagogische Förderung anzubieten.

Die Sonderschule umfasst acht Schulstufen. Die Klassenschülerhöchstzahl variiert je nach Behinderungsart zwischen acht und 15 Schülern. Anschließend kann eine Polytechnische Schule oder ein Berufsvorbereitungsjahr absolviert werden.

Das sonderpädagogische Zentrum ist die erweiterte Form der Sonderschule mit individuellen Förderkonzepten.