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Türkis-blaues Erbe schrumpft

Von Karl Ettinger

Politik

Neue Sozialhilfe wurde vom Verfassungsgerichtshof entschärft, Rauchverbot in Lokalen wurde letztlich doch beschlossen. Der umkämpfte Zwölf-Stunden-Arbeitstag und der steuerliche Familienbonus bleiben erhalten.


Zähneknirschend hat die ÖVP die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zur Sozialhilfe akzeptiert. Denn das Höchstgericht hat zwei Kernpunkte des ÖVP-FPÖ-Gesetzes aufgehoben. Was bleibt von der Amtszeit der türkis-blauen Regierung, die nach 17 Monaten nach der Ibiza-Affäre heuer im Mai geplatzt ist? Ein Überblick: Was hält, was nicht? Das Verfassungsgericht hat dabei zuletzt eine entscheidende Rolle gespielt. Manches ist noch offen, das gilt etwa für die Indexierung der Familienbeihilfe für Kinder im EU-Ausland, über die der Europäische Gerichtshof entscheiden könnte.

Bei der Neuregelung der Sozialhilfe ist das türkis-blaue Erbe erst diese Woche durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs doch entscheidend geschrumpft. Die Höchstrichter haben das symbolträchtige Prestigeprojekt von Türkis-Blau in zwei Eckpunkten entschärft: Die Verknüpfung mit Sprachkenntnissen und Höchstsätze für Kinder zum Nachteil von Mehrkindfamilien wurden gekippt.

Neuregelungen sind vorerst Sache der Länder

Beide Punkte standen schon vor dem Beschluss besonders im Visier vieler Kritiker. ÖVP und FPÖ haben hingegen nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie mit ihrer Umstellung von der Mindestsicherung auf die neue Sozialhilfe vor allem den Zustrom von Zuwanderern ins österreichische Sozialsystem bremsen wollen.

Die genaue Regelung in diesen Fragen ist nun Sache der Länder. Im türkis-blauen Grundsatzgesetz mit bundesweiten Vorgaben hat der Verfassungsgerichtshof jedenfalls keinen unzulässigen Eingriff in die Zuständigkeit der Länder bei der Sozialhilfe gesehen. Fraglich ist, ob eine künftige Bundesregierung mittels Bundesgesetz neue Regelungen vorschreibt. Abgesehen von den aufgehobenen Punkten bleibt das Grundsatzgesetz des Bundes aufrecht, auch die Tonalität bleibt.

Schranken für das Ausspionieren

Das von ÖVP und FPÖ im Frühjahr 2018 beschlossene Sicherheitspaket ist vom Verfassungsgerichtshof ebenfalls deutlich beschnitten worden. Das betrifft vor allem den Einsatz staatlicher Spionagesoftware in Computersystemen. Denn die Nutzung des sogenannten "Bundestrojaners" ist als verfassungswidrig aufgehoben worden. Das Gleiche passierte mit der automatischen Auswertung von Verkehrskameras und Section-Control-Daten von Autofahrern. Für die Höchstrichter waren die Eingriffe in Grundrechte von Privaten durch die Polizeibefugnisse "unverhältnismäßig". Hingegen bleibt unter anderem der im Paket auch vorgesehene Zugriff der Polizei auf Videoüberwachung - etwa bei Verkehrsbetrieben - zulässig.

Bei der Sozialversicherungsreform, einem weiteren besonders heftig diskutierten Vorhaben, bleibt es bei der von ÖVP und FPÖ beschlossenen Fusion von 21 auf fünf Sozialversicherungsträger und bei der Fusion der neun Gebietskrankenkassen ab kommendem Jahr. Die Fusion hat vor dem Verfassungsgerichtshof gehalten. Gleiches gilt für die Entmachtung der Arbeitnehmer in der Gesundheitskasse durch die von Türkis-Blau beschlossene Parität in den Gremien mit den Arbeitgebern. Neben diesen politisch besonders symbolträchtigen Eckpunkten, die gehalten haben, hat das Höchstgericht allerdings auch mehrere Bestimmungen der Kassenreform als zu starke Eingriff des Staates in die Selbstverwaltung der Sozialversicherung aufgehoben. Die künftige Bundesregierung muss sich bis 30. Juni außerdem mit einer Neuregelung der Prüfkompetenz der Sozialbeiträge herumschlagen, weil die Übertragung von den Kassen an die Finanz auch gekippt wurde.

Seit 1. November nun doch in Kraft ist das Rauchverbot in Lokalen. Dieses war zwar ursprünglich von der rot-schwarzen Regierung schon abgesegnet gewesen, wurde aber auf massiven Druck der FPÖ hin von Türkis-Blau gelockert. Erst nach dem Platzen der ÖVP-FPÖ-Koalition im Mai wurde das Rauchverbot in der Gastronomie im freien Spiel der Kräfte im Parlament vor der Nationalratswahl letztlich auch mit den Stimmen der ÖVP doch beschlossen.

Bestand hat eine gesetzliche Regelung im Arbeits- und Wirtschaftsbereich, die im Jahr 2018 ebenfalls heftig umkämpft war. ÖVP und FPÖ haben die Möglichkeit für einen Zwölf-Stunden-Arbeitstag ohne Zustimmung des Betriebsrates geschaffen. Dagegen haben Gewerkschaft und Arbeitkammer im Vorjahr auch mit einer Großdemonstration mobilgemacht. In der Zwischenzeit ist es darum zumindest öffentlich weitgehend ruhig geworden.

Budgetüberschuss wurde 2018 erreicht

Auf der Habenseite kann Türkis-Blau die Einführung des steuerlichen Familienbonus bis zu 1500 Euro pro Kind verbuchen. Diese Entlastung für Familien ist seit Beginn 2019 in Kraft und war als Vorgriff auf eine umfassende Steuerreform geplant. Zu dieser Steuerreform ist es nach dem Koalitionsbruch nicht mehr gekommen. Allerdings wurde noch die Entlastung von Beziehern niedriger Einkommen bei den Sozialbeiträgen ab 2020 fixiert.

Vor allem auch dank der guten Konjunktur und hoher Steuereinnahmen konnte der Weg in Richtung Schuldenabbau eingeschlagen werden. Ein Nulldefizit war für Türkis-Blau eines der wichtigsten Ziele. Für 2018 wies die Statistik Austria einen gesamtstaatlichen Überschuss von 426 Millionen Euro aus. Für heuer und 2020 werden vom Fiskalrat Überschüsse im Budget erwartet.

Manches wurde durchgeboxt. Nach dem Bruch der Koalition haben ÖVP und FPÖ vor der Nationalratswahl trotz massiver Expertenkritik ein Strafrechtspaket abgesegnet. Dieses sieht insbesondere höhere Strafen für Sexual- und Gewaltdelikte vor.

Im Asylbereich ist die von Ex-Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) betriebene Einrichtung einer Bundesagentur für die Betreuung von Flüchtlingen ab Mitte 2020 beschlossen. Hingegen wurde bereits im Mai nach dem Ende der FPÖ-Regierungsbeteiligung Kickls Erlass, Asylwerbern für gemeinnützige Arbeit nur 1,50 Euro pro Stunde zu zahlen, rückgängig gemacht. Auch eine symbolhafte Aktion Kickls, die Tafel "Ausreisezentrum" bei Erstaufnahmezentren, wurde prompt entfernt. Erst in der Vorwoche wurde gegen die Stimmen der FPÖ ein Abschiebestopp für knapp 800 Asylwerber in Lehre beschlossen, damit diese zumindest die Ausbildung abschließen können. Ebenfalls gestoppt wurde Kickls Sonderprojekt einer berittenen Polizei.

EU-Verfahren wegen der Familienbeihilfe im Ausland

Fraglich bleibt, ob die von ÖVP und FPÖ mit Anfang 2019 fixierte Indexierung der Familienbeihilfe hält. Sie gilt für Kinder, die im EU-Ausland leben, deren Eltern aber in Österreich arbeiten. Das hat vor allem für Kinder in Osteuropa niedrigere Beihilfen zur Folge. Ein EU-Vertragsverletzungsverfahren läuft. Die EU-Kommission erachtet die Beihilfe als Sozialleistung aufgrund von Beiträgen, die daher nicht indexiert werden könne. Letztlich könnte der Konflikt um die Familienbeihilfe vom Europäischen Gerichtshof entschieden werden.

Auf dem Prüfstand steht die Regelung des Karfreitags, der nun ein "persönlicher Feiertag" ist, für den aber ein Urlaubstag genommen werden muss. Evangelische und altkatholische Kirche fechten die Abschaffung des Karfreitags als Feiertag beim Verfassungsgerichtshof an.

Die von Türkis-Blau für Herbst dieses Jahres angekündigte Pflegereform samt Neuregelung der Finanzierung ist dem Bruch der Koalition zum Opfer gefallen. Im freien Spiel der Kräfte im Nationalrat wurde allerdings die jährliche Valorisierung des Pflegegeldes ab 2020 beschlossen.