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Türkis-grüne Reibeflächen

Von Karl Ettinger

Politik

Neben der Migration tun sich auch im Sozialbereich Welten zwischen ÖVP und Grünen auf.


Mit der Bildung der türkis-grünen Regierung seien "zwei Welten vereint" worden, sagte ÖVP-Obmann Sebastian Kurz nach dem Abschluss des Koalitionsabkommens. Eine Woche nach der Angelobung der Bundesregierung wird deutlicher, dass die Vereinigung der Welten in einigen Bereichen keineswegs erfolgt ist, sondern Paralleluniversen existieren. Von der Sicherungshaft über den UN-Migrationspakt wurde für die Österreicher offenkundig, dass heikle Punkte ungelöst sind oder aus dem Koalitionsabkommen ausgeklammert wurden. Die Problemfelder sind damit nicht aus der Koalitionswelt geschafft.

Augenscheinlich wird das beim Pensionssplitting, bei dem ein Paar die Kindererziehungszeiten für die Anrechnung auf die spätere Pension teilt. Im Koalitionsabkommen sind ausdrücklich zwei gegenläufige Varianten angeführt: ein automatisches Pensionssplitting, das die ÖVP propagiert hat, und ein freiwilliges Pensionssplitting, wie dies die Grünen wollen.

Ein freiwilliges Pensionssplitting gibt es seit 2005, es wird aber nur selten benutzt. Nur gut 1000 Fälle hat man seither gezählt. Zumindest in der grundsätzlichen Intention sind sich die ÖVP und Grüne einig. Sie sehen in dem Instrument eine Möglichkeit, der Armut von älteren Müttern vorzubeugen.

Der Hintergrund für die Sorgen: Bei der Pensionsberechnung werden nicht mehr wie bis zur Pensionsreform 2003 die 15 "besten" Jahre, also jene mit den höchsten Bezügen und damit Beiträgen herangezogen. Vielmehr werden Schritt für Schritt bis zum Jahr 2028 letztlich 40 Jahre einbezogen.

Zwei Varianten zum Pensionssplitting

Das kann zu Problemen führen, insbesondere bei Frauen und Müttern, die nicht durchgehend erwerbstätig sind. Sie haben eine wesentlich niedrigere Ersatzrate, das ist die Relation der Pension zum Erwerbseinkommen vor dem Ruhestand. Viele Frauen sind nur in Teilzeit tätig, wenn ihre Kinder noch jünger sind. Das verschärft die Situation.

Das automatische Pensionssplitting sieht ein Opt-out-Modell vor: Paare können sich entscheiden, ob sie die Pensionsteilung für die Zeiten der Kindererziehung wollen oder nicht. Allerdings wäre die Opt-out-Möglichkeit zeitlich befristet und nur einmal zulässig. Geteilt werden könnten von den Eltern die Zeiten bis zum zehnten Lebensjahr des gemeinsamen Kindes. Die Beitragszeiten sollen je zur Hälfte gesplittet werden. Für Patchwork-Familien wird laut Regierungspakt eine "faire Lösung" angestrebt.

Gleich anschließend ist im Regierungspakt das freiwillige Pensionssplitting angeführt. Es wurde von den Grünen hineinreklamiert. Der Unterschied wird rasch klar. In der Passage heißt es, dass das freiwillige Splitting "in jeder Form der Partnerschaft (Ehe, eingetragene Partnerschaft, freiwillige Vereinbarung bei Lebensgemeinschaften)" gelten soll. Das wird beim ÖVP-Modell nicht ausdrücklich festgehalten.

Das freiwillige Pensionssplitting soll jederzeit beendet werden können. Deutlicher ist noch selten in einem Koalitionspakt gestanden, dass sich zwei Regierungsparteien eben nicht geeinigt haben, sondern dass eine Lösung für die Zeit der Legislaturperiode aufgeschoben wurde.

Für die Grünen handelt es sich um eine Möglichkeit, mehr "Gerechtigkeit" zugunsten der Frauen zu schaffen. Haben die Elternteile aber nur niedrige Einkommen, werden die beiden Pensionen das Kraut nicht fett machen.

Anschober will "Richtlinien" gegen Kinderarmut

Die zwei Welten werden bei einem noch brisanteren Punkt offenkundig: bei der Neuregelung der Sozialhilfe. Die ÖVP hat ihr Unverständnis darüber geäußert, dass der Verfassungsgerichtshof im Dezember die türkis-blauen Verschärfungen für Mehrkindfamilien und die um rund 300 Euro pro Monat niedrigere Sozialhilfe für Zuwanderer ohne Deutschnachweis aufgehoben hat.

Im Koalitionspakt wurde die Sozialhilfe ausgeklammert. Bundeskanzler Sebastian Kurz hat aber schon am 3. Jänner versucht, Fakten zu schaffen. Statt einer bundesweit einheitlichen Lösung, wie das die ÖVP-FPÖ-Regierung mit einem Rahmengesetz angepeilt hat, soll die Sozialhilfe künftig Ländersache sein. Das würde bedeuten, dass etwa Länder wie Nieder- und Oberösterreich in Teilbereichen strengere Regeln beschließen können als beispielsweise das rot-grün regierte Wien.

Sozialminister Rudi Anschober hat zwar im Interview mit der "Wiener Zeitung" erklärt, eine Länderlösung sei auch sein Lieblingsweg. Allerdings hätte er gern einen für die Grünen wichtigen Zusatz bundesweit verankert. Denn mit Richtlinien des Sozialministeriums soll vorgegeben werden, dass bei der Sozialhilfe die Bekämpfung von Kinderarmut zu berücksichtigen sei. Für Grünen-Chef Werner Kogler war der Kampf gegen Kinderarmut ein Fixpunkt, wie er während der Regierungsverhandlungen stets betonte. Allerdings wurde im Pakt nicht verankert, dass dies mit der Sozialhilfe erfolgen soll. Offenbar sind die Grünen mit diesem Wunsch beim Koalitionspartner abgeblitzt.

Der Bereich der Migration und Integration ist überhaupt das Paradebeispiel dafür, dass es nach der Regierungsbildung zwei unterschiedliche Welten gibt, in denen wenig vereint wurde. Zuletzt hat die ÖVP-Regierungsmannschaft erklärt, dass sie beim UN-Migrationspakt keinen Millimeter vom Kurs unter Türkis-Blau abweichen will. Den Grünen bleibt nur übrig, immer wieder zu betonen, dass man in diesem Punkt ganz anderer Meinung ist.

Eurofighter-Nachfolge wird nächstes Problemfeld

Der erste Aufreger wurde vor der Angelobung mit den Differenzen um die Sicherungshaft im Asylbereich geliefert. Für so manchen Grünen-Funktionär war unverständlich, dass damit ausgerechnet ein Vorhaben des verhassten Ex-Innenministers Herbert Kickl (FPÖ) neu auflebt.

Die grüne Spitze um Kogler bemühte sich, mit dem Hinweis zu beruhigen, dass die Sicherungshaft nur mit einer Verfassungsänderung möglich sei. Definitiv ausgeschlossen hat Kogler eine Verfassungsänderung nicht. Die Fortsetzung dieser Debatte folgt.

Reibereien sind auch bei einem weiteren wichtigen Thema programmiert, das aus dem Koalitionsabkommen ausgeklammert worden ist: die künftige Form der Luftraumüberwachung. Das Bundesheer drängt auf eine rasche Entscheidung, wie es mit den Eurofighter-Abfangjägern weitergeht. Eigentlich hätte dies schon bis Ende Juni 2019 geschehen sollen. Da kam der Bruch der ÖVP-FPÖ-Regierung dazwischen. Man muss kein Hellseher sein, um zu prophezeien, dass die Entscheidung für die Grünen alles andere als einfach sein wird.

Freilich werden auch die ÖVP und ihre Verteidigungsministerin Klaudia Tanner der Bevölkerung erst einmal erklären müssen, warum nicht einmal 20 Jahre nach dem noch immer fragwürdigen Kauf der damals als hochmodern gepriesenen und teuren Eurofighter wieder eine Nachfolge-Lösung gesucht werden muss. Das klingt alles mehr nach einem Zwist der zwei Welten von ÖVP und Grünen als nach Koalitionseintracht.