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Bildung als Weg aus der Armut

Von Martina Madner

Politik
Ohne massives Eingreifen bleiben soziale Nachteile über Generationen erhalten. Unsplash

Armut ist in Österreich vererbbar. Was die Regierung für Kinder plant - und was fehlt.


Fast 200.000 Kinder leben in einem Haushalt, in dem es sich die Eltern nicht leisten können, eine defekte Waschmaschine reparieren zu lassen oder einen kaputten Kühlschrank zu ersetzen. Für rund 58.000 Kinder können ihre Eltern keine neue Kleidung kaufen, wenn die alte abgenutzt ist. Und bei 41.000 reicht das Geld nicht aus, um jeden zweiten Tag Fisch, Fleisch oder eine vergleichbare vegetarische Speise auf den Teller zu bringen. So sieht das Leben von Kindern, die in einen von Armut betroffenen Haushalt in Österreich hineingeboren worden sind, laut EU-Silc-Erhebung aus.

Armut ist vererbbar. Nach OECD-Studien weist Österreich im internationalen Vergleich zwar eine relativ niedrige Einkommensungleichheit auf. Aufsteigen aus einem sozial benachteiligten Haushalt ist aber kaum möglich. Da heißt es, der "Platz in der Einkommensverteilung bleibt über Generationen hinweg tendenziell bestehen".

Sozialminister Rudolf Anschober sagte im Interview mit der "Wiener Zeitung": "Ich halte es für einen wirklichen Skandal, dass wir mehr als 55.000 Kinder in diesem Land haben, die teilweise keinen Anspruch auf die Lebensgrundlagen haben." Es sei "Top-1-Priorität, da etwas zu tun". Es ist eine Priorisierung, die sich in Ansätzen auch im türkis-grünen Regierungsprogramm wiederfindet - und um weitere Maßnahmen, insbesondere im Bildungsbereich ergänzt werden könnte.

Bildung beeinflusst Armut, der Status ist ebenfalls vererbbar

Bildung ist ein wesentlicher Faktor, der Armut beeinflusst. Verfügt eine Person nur über einen Pflichtschulabschluss, beträgt das Risiko der Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung laut EU-Silc 27 Prozent. Und: Bildung ist ebenfalls vererbbar. Kinder von Eltern mit einem Pflichtschulabschluss erreichen zu 32,6 Prozent wieder nur einen solchen als höchsten Abschluss, nur 6,9 Prozent dieser Kinder schließen eine Uni ab. Anders bei Kindern von Eltern mit akademischer Ausbildung: Hier bleibt es nur bei 3,6 Prozent bei der Pflichtschule, bei 57,3 Prozent ist es wieder ein Uni-Abschluss.

Mit Bildung schon vor der Geburt ansetzen

Bildung ist für Martin Schenk, Sprecher der Armutskonferenz, einem Netzwerk aus NGOs und Wissenschafterinnen, folglich auch eine der wesentlichsten Maßnahmen, um den Teufelskreislauf der Vererbung von Armut zu durchbrechen. Er sagt sogar: "Die Präventionskette gegen Kinderarmut beginnt schon vor der Geburt" - also bei der werdenden Mutter. Denn: Eva Six, Ungleichheitsforscherin an der WU Wien, weist in einer Studie vom Sommer 2019 nach, dass Kinder aus sozial schwächeren Haushalten mit weniger Gewicht geboren werden - das beeinträchtigt wiederum die Lernerfolge: Konkret heißt es da, ein geringeres Geburtsgewicht habe negative Folgen "auf die kognitive Entwicklung, die Bildungserfolge, das Einkommen und die Gesundheit einer Person".

Deshalb lohnt es sich, solche Mütter mit "frühen Hilfen", mit Beratung und Bildung zu unterstützen. Eine solche frühe Hilfe ist zum Beispiel "Better Start", ein gemeinsames Projekt der Diakonie und des Roten Kreuzes. Vor und nach der Geburt unterstützen erst Hebammen, dann Pädagoginnen, später Sozialarbeiterinnen. Junge Mütter mit psychischen, sozialen oder finanziellen Problemen sollen so wieder auf die eigenen Beine kommen. Im Regierungsprogramm ist von "flächendeckender Bereitstellung und dem Ausbau früher Hilfen" die Rede - wenn auch noch Zeitplan, zuständige Organisationen und Ressourcen dafür fehlen.

Elementare Bildung statt Kinderbetreuung

Türkis-Grün plant auch den Ausbau "qualitätsvoller Bildung und Förderung von Anfang an und für alle Kinder". Damit sind flächendeckende, qualitätsvolle, vereinbarkeitstaugliche Kindergärten und -krippen gemeint. Auch die Zuschüsse zur Elementarpädagogik sollen ab dem Kindergartenjahr 2020/21 "wesentlich erhöht" werden. Für Bildungswissenschafterin Christiane Spiel ist das gut, denn: "Der Elementarbereich ist der wichtigste Bereich."

Denn gerade die Kinderbetreuung und die Elementarbildung bei den unter Dreijährigen liegt in manchen Bundesländern besonders im Argen: Während laut Statistik Austria in Wien 44 Prozent der unter Dreijährigen und im Burgenland 32,5 Prozent einen Kindergarten besuchen, sind es bei den Schlusslichtern Oberösterreich 16,5 und der Steiermark 15,6 Prozent.

Dabei lohnt sich frühe Kinderbildung besonders - nicht nur individuell für jedes Kind, sondern auch volkswirtschaftlich: Jeder in frühkindliche Entwicklung investierte Dollar oder Euro spart das 16-Fache an Kosten, die die Gesellschaft später für von Armut Betroffene ausgeben hätte müssen. Das belegte der US-Wirtschaftswissenschafter und Nobelpreisträger James Heckmann schon vor mehr als zwei Jahrzehnten am Beispiel des "Perry Preschool"-Programms: "Wenn ich heute einen Euro investiere, dann bekomme ich in jedem darauffolgenden Jahr 0,14 Euro zurück. Das ist fast wie ein Sparbuch, wie eine Zinsrate", wird Heckmann in einem Beitrag des Deutschlandradios schon 2009 zitiert. Eine Rendite von 14 Prozent lässt sich übrigens nicht mal bei Dividendenkaisern wie der Post erzielen lassen, da waren es laut Wiener Börse 2019 6,3 Prozent, geschweige denn am Sparbuch.

Die Chancen an der Schule erhöhen

Was im türkis-grünen Regierungsprogramm fehlt, ist eine Neuregelung der vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenen Höchstsätze für Mehrkindfamilien in der "Sozialhilfe Neu". Der VfGH sah diese als "sachlich nicht gerechtfertigte und daher verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien". Laut Schenk ist das Geld, das den Familien fehlt - etwa um die Kinder zu fördern und schulische Aktivitäten zu finanzieren. Was es im Programm aber gibt, sind "mehr Ferienbetreuung und Sommerunterricht für jene, die es brauchen um Eltern zu entlasten".

Was Schenk fehlt, ist eine spätere Trennung der Schüler als mit 10 Jahren, "die wird mit Testungen in der dritten Klasse sogar noch verschärft". Die frühe Segregation in AHS und Mittelschule zeichnet den weiteren Bildungsverlauf vor. Und: "Die Entscheidung für eine Schule erklärt sich nur zu 30 Prozent durch Leistung, 70 Prozent durch die Eltern und deren Bildungs- wie Sozialstatus", ergänzt Spiel. Die Bildungspsychologin begrüßt deshalb den Ausbau von Ganztagsschulen zum Ausgleich für familiäre Unterschiede.

Laut Spiel brauche es eine bessere Stadtplanung für eine bessere Durchmischung in den Klassen, die fehlt im türkis-grünen Programm. Für einen Ausgleich sorge auch der Chancenindex. Der ist mit dabei, zumindest für 100 "Schulen mit besonderen Herausforderungen", die im Pilotversuch "anhand eines zu entwickelnden Chancen- und Entwicklungsindex" mehr Geld für Schulentwicklung bekommen sollen. Das wiederum begrüßt Philipp Schnell, Bildungsexperte der Arbeiterkammer Wien, die seit Jahren für einen Chancenindex plädiert.

Schließlich zeigt sich am Beispiel der Volksschulen, dass 80 Prozent einen mittleren Grad an Herausforderungen haben, weniger als ein Prozent keine, und dass diese bei rund 20 Prozent der Volksschulen österreichweit groß oder gar sehr groß sind. Und: "Wien sticht hier heraus. Da haben 60 Prozent große Herausforderungen", sagt Schnell. Auch in Steyr, Wels und Linz gebe es mehr solcher Schulen: "Es ist ein urbanes Phänomen."

Schulentwicklung kann mehr Teamteaching, mehr Sprachförderung genauso wie mehr psychologische Betreuung oder Sozialarbeit bedeuten - der Ausbau Letzterer steht ebenfalls am Plan. Um die Chancen an den Volksschulen zu erhöhen, wären laut Statistik-Austria-Rechnung 3000 bis 3100 Vollzeit-Stellen an Volksschulen notwendig, das macht zusätzliche 176 Millionen Euro jährlich. Schnell hofft auf ein Ausrollen nach den Piloten, denn: "Bremen hat vorgezeigt, dass vorher sozial Benachteiligte nach fünf Jahren einen durchschnittlichen Lernerfolg hatten. Und der sank nicht ab, das Niveau wurde also insgesamt besser."