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Trennende Tests

Von Martina Madner

Politik

Im Laufe ihrer Bildungskarriere werden Kinder und Jugendliche vielmals getestet, Türkis-Grün plant einige Neuerungen. Wissenschafterinnen und Praktikerinnen geben einen Einblick in Wirkung und Auswirkung solcher Tests.


Es ist zwölf Uhr Mittag an einem Tag während der Schuleinschreibungsphase an den Wiener Volksschulen. Direktorin Erika Dorn hat heute bereits vier Gespräche mit Eltern und Kind parallel absolviert, insgesamt waren es seit 13. Jänner bereits 25, noch einmal so viele kommen auf Dorn bis zum 24. Jänner an der Karl Popper-Schule im 15. Wiener Gemeindebezirk zu - schließlich gilt es zwei Taferlklassen zu besetzen.

Das Mädchen, das direkt vor dem Gespräch mit der Wiener Zeitung da war, kam "im Glitzer-Röckchen mit Mascherl, schließlich ist die Einschreibung für jedes Kind wie der erste Schultag auch etwas Besonderes", erzählt Dorn. Mama, Papa und Oma kamen als Begleitung mit, "alle drei ebenfalls sehr aufgeregt. Es ist ja oft so, dass die Begleitung aufgeregter ist als die Kinder." Grund dazu hatte dieses Mädchen nicht, es ist schulreif, wird also im September in der ersten Klasse starten - und nicht in die Vorschule. Wobei Dorn anmerkt, dass es, wenn überhaupt, eher bei den Eltern Überzeugungsarbeit brauche als bei den nicht schulreifen Kindern: "Diese Kinder fühlen sich in der Vorschule viel wohler, weil sie da nicht überfordert sind."

Die Schulreife ist allerdings nur der erste Test von vielen weiteren, die Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Bildungskarriere absolvieren. Im türkis-grünen Regierungsprogramm sind zwei mehr vorgesehen: in der dritten Schulstufe die individualisierte Kompetenzfeststellung und vor dem Ende der neunten Schulstufe eine Mittlere Reife. Manche Wissenschafterinnen und Praktikerinnen erkennen darin Benefits, andere haben mehr Bedenken.

Poldi misst die Schulreife noch nicht optimal

Aber zurück an den Beginn der Schulkarriere und die Karl-Popper-Schule. Die Volksschule ist eine unter rund zehn Prozent aller Schulen, die freiwillig die um eine Koboldin namens Poldi gestaltete App zur Schuleinschreibung testen.

Ziel dieser App waren und sind einheitliche Schulreifekriterien, schließlich gibt es bislang große Unterschiede bei der Bewertung der Schulreife der knapp noch fünf oder bereits sechs Jahre alten Kinder. Die Palette reichte von durchschnittlich einem Prozent der Kinder in der Steiermark bis hin zu 24 Prozent in Salzburg, die ihre Schulzeit in der Vorschule starteten. Mit der App mit Poldi sollen solche unerklärlichen Unterschiede weichen - und Direktorin Dorn hat sich darauf gefreut, weil es "endlich einheitliche Standards" gibt.

Nach den ersten Tagen mit Poldi scheint Dorn allerdings etwas ernüchtert zu sein, und zwar gleich aus mehreren Gründen. Aus den von der App-Mitentwicklerin Karin Landerl, Entwicklungspsychologin an der Uni Graz, angegebenen 20 Minuten, die dieses Schulreifescreening circa dauern soll, wurden in der Praxis mehr als 40 Minuten. Für Dorn ist das problematisch, "altersadäquat sind maximal 15 Minuten".

Man könne zwar bei einer der Aufgaben die Ausdauer überprüfen und sehen, wie lange ein Kind dranbleibt, das aber bei jedem Bereich zu machen erachtet die Direktorin nicht für sinnvoll: "Jene, die zum Beispiel bei Mengenangaben schon die erste Aufgabe nicht lösen können, frustrieren die vielen weiteren Aufgaben - wie übrigens auch uns als Lehrkräfte, die das ja ebenfalls bemerken." Sowohl die Kinder als auch sie selbst seien nach Poldi erschöpft gewesen. Aber nicht nur das: "Auch jenen, die die Aufgaben lösen können, machen die ersten vielleicht Spaß, aber bei der vierten gleichen Übung langweilen sie sich."

Dorn bedauert auch, dass dem Denken, Verstehen und Wissenstest weit mehr Raum als dem sozialen Verhalten oder motorischen Fähigkeiten eingeräumt wird. "Das Spielerische, das Spaß macht, wie zum Beispiel beim Rückwärtsgehen, das viele Kinder lustig finden, kommt zu kurz." Die App biete im Moment auch noch keinen Raum für die Eindrücke der Lehrkräfte. "Das Kind tippt seine Antworten in einen Computer, dieser erkennt allerdings nicht, ob es rät und durch Zufall richtig liegt oder ob das eine überlegte Antwort war. Das verfälscht also das Ergebnis." Das Mädchen mit dem Mascherl sei ganz ernsthaft bei der Sache gewesen, es "sagte bei einer Aufgabe, das kann ich nicht. Diese Fähigkeit zur Selbsteinschätzung ist auch eine Komponente für Schulreife, die App misst sie aber nicht", sagt Dorn.

Diese Eindrücke wird die Direktorin übrigens wie andere Pilotschulen auch nach der Schuleinschreibung ans Ministerium weiterleiten, sie hofft auf Verbesserungen. Genau das, ein Nachschärfen bei Inhalt und Kommunikation, falls notwendig, wurde diese Woche auch aus dem Ministerium angekündigt. Man müsste nicht am ursprünglichen Ausrolltermin auf alle Schulen ab Jänner 2021 festhalten, versicherte Martin Netzer, Generalsekretär im Bildungsministerium.

Auch im Regierungsprogramm ist angekündigt, dass das Schulreife-Screening evaluiert wird und man eine "Weiterentwicklung von Fördermaßnahmen für Kinder mit Förderbedarf aus dem Kindergarten bei Eintritt in die Volksschule bis zur neuerlichen Überprüfung der Förderwürdigkeit" plane.

Neue Kompetenzfeststellung in der dritten Klasse Volksschule

Noch weit unkonkreter, aber von Türkis-Grün bereits geplant, ist ein zweiter Test in der dritten Klasse Volksschule - die "individualisierte Kompetenzfeststellung". Konkret heißt es da: Die Entscheidung über die weitere Bildungslaufbahn soll nicht mehr nur von einer Leistungsfeststellung (Schulnachricht der 4. Schulstufe) abhängig gemacht werden, sondern auf Basis der Ergebnisse einer individualisierten Kompetenzfeststellung in der 3. Schulstufe, des Jahreszeugnisses der 3. Klasse und der Schulnachricht der 4. Klasse getroffen werden." Und zwar, um die "Bildungswegentscheidung zu unterstützen".

Hier hat die frühere Schuldirektorin Heidi Schrodt Bedenken, und zwar falls das Hauptaugenmerk auf die Entscheidung, ob AHS oder Mittelschule, in das erste Semester der dritten Klasse vorverlegt würde. Denn: "Wer je in der Schule war, weiß, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln." Der Druck auf die Lehrer und Kinder, dem Wunsch vieler Eltern nachzukommen, dass ihre Kinder das Gymnasium besuchen, würde so nur vorverlagert.

Genau hier setzen die Überlegungen von Bildungspsychologin Christiane Spiel an: "Der wichtige Punkt dabei ist: Wofür werden diese Tests genutzt?" Es gehe wie bei jeder Diagnostik auch bei dieser um den Zweck und die Maßnahmen, die darauf folgen. So konkret steht das noch nicht im Regierungsprogramm.

Für Spiel sind mehrere Ebenen denkbar: "Man könnte diese Erhebung sowohl für den Förderbedarf des einzelnen Individuums und den Vergleich in der Klasse, für den Vergleich der Klassen an einer Schule, für den Vergleich mit anderen Schulen mit ähnlichem Schülerkontingent verwenden, wobei jeweils die Unterstützung und Förderung im Fokus stehen sollte." Auch die Bildungspolitik könnte Schlüsse aus der Erhebung ziehen – um den Förderbedarf in Schulbezirken oder Bundesländern gemäß Lehr- und Unterstützungspersonal zu planen.

Unterrichts- und Schulentwicklerin Christa Koenne stellt solche Testungen grundsätzlich in Frage, aus einem einfachen Grund: "Weil wir aus internationalen Vergleichsstudien wissen, dass wir dadurch keine Daten für Prognosen zum weiteren Bildungsverlauf erhalten." Außerdem besteht mit dem Hinweis auf die Schwächen alleine die Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: "Es ist total falsch, den Kindern nur zu sagen, was sie alles falsch machen." Und: "Es gibt immer wieder Schüler, die mit zehn in die Mittelschule kamen, nach einem Entwicklungssprung dann unterfordert waren - und aus Langeweile dann tatsächlich schlechter geworden sind."

Nach neun Jahren geht es um die "Mittlere Reife"

Koenne kann der Trennung mit zehn ohnehin wenig abgewinnen. Während der Schulpflicht solle man die Kinder "sukzessive, schrittweise, individuell und professionell begleiten, ihre Stärken stärken", sagt sie, "und nicht dauernd schauen, in welchem Ranking sie sich befinden". Mit 15 Jahren müssten die Jugendlichen dann selbst die Verantwortung übernehmen: "Diese Schnittstelle wurde bislang nicht scharf genug beleuchtet." Koenne kann deshalb dem einen weiteren Test mehr als allen davor abgewinnen - der "Mittleren Reife".

Dazu steht im türkis-grünen Programm: "Vor Ende der 9. Schulstufe soll die Mittlere Reife stehen, die ein qualitätsgesichertes Erreichen der nötigen Grundkompetenzen in Mathematik, Deutsch und Englisch bestätigt." Koenne würde diese noch genauer ausbauen. Neben einer Prüfung dieser Grundkompetenzen würde die Schulentwicklerin diesen Test auch als "Rückmeldung für die begleitenden Lehrerinnen und Lehrer ausbauen, sie haben die Schülerinnen und Schüler ja dorthin begleitet". Als dritten Schritt würde Koenne ein Portfolio der Schülerinnen und Schüler selbst vorschweben, "wo sie beschreiben, wo sie ihre sozialen Kompetenzen, musische, bildnerische Talente oder auch Stärken in darstellender Geometrie oder Interessen in Naturwissenschaften darstellen".

Das Ergebnis wäre laut Koenne "ein Spiegel für die Jugendlichen, ihre Eltern, das Lehrpersonal davor, aber auch für die abnehmenden Schulen und Unternehmen, die so besser einschätzen könnten, wo die Reise hingeht".