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Grabenwarter: Der Mann fürs Gleichgewicht

Von Walter Hämmerle

Politik

Christoph Grabenwarter, der frisch gekürte neue Präsident des Verfassungsgerichtshofs, im Gespräch über seine Rolle und jene des VfGH.


Er war von vornherein der logische Nachfolger für Brigitte Bierlein an der Spitze des Verfassungsgerichtshofs. Entsprechend stieß die Nominierung Christoph Grabenwarters, der den Gerichtshof bereits seit dem vorübergehenden Wechsel Brigitte Bierleins ins Amt der Bundeskanzlerin Anfang Juni 2019 interimistisch leitete, auf praktisch ungeteilte Zustimmung. Der 1966 geborene Steirer ist seit 2005 Richter am VfGH und seit 2018 dessen Vizepräsident. Dabei hat er die Aussicht auf eine lange Amtszeit: Gesetzlich kann er bis Ende 2036 dem Höchstgericht präsidieren. Am Mittwoch wurde Grabenwarter vom Bundespräsidenten angelobt. Im Folgenden ein Gespräch mit dem neuen Präsidenten jener Institution, die federführend für die Wahrung des Gleichgewichts bei Grundrechtskonflikten und als Schiedsrichter in verfassungsrechtlichen Streitfragen verantwortlich ist.

"Wiener Zeitung": Die Justiz ist zuletzt politisch ins Gerede gekommen. Halten Sie das für bedenklich?

Christoph Grabenwarter: Die Unabhängigkeit der Justiz steht in unserer Verfassungsordnung ganz oben. Dass über sie aktuell diskutiert wird, ist für sich genommen nichts Schlimmes. Die Frage ist stets: Handelt es sich um eine Diskussion, bei der die Justiz selbst Schaden nimmt? Wenn man Polen oder Ungarn betrachtet, erkennt man, dass eine aggressive Auseinandersetzung die Justiz massiv beschädigen kann.

Auch bei uns wurde der Justiz die politische Unabhängigkeit abgesprochen.

Sie beziehen sich, so vermute ich jedenfalls, hier auf ein Hintergrundgespräch des Bundeskanzlers. Solche Gespräche möchte ich nicht kommentieren.

Haben Sie Grenzüberschreitungen oder Zumutungen in Richtung Justiz wahrgenommen?

Ich will das nicht bewerten, die Justiz muss Kritik vertragen, das sagt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte; aber man soll die Debatten so führen, dass die Justiz selbst daran teilnehmen kann. Allerdings muss man dabei bedenken, dass sie dies eben aufgrund ihrer Rolle als neutraler Hüter der Rechtsstaatlichkeit nur bedingt kann.

Ist eine Parteimitgliedschaft von Staatsanwälten und Richtern vereinbar mit dieser Rolle?

Sieht man einmal vom VfGH ab, für dessen Mitglieder ja noch strengere Regeln als für Richter gelten, muss man hier zwei Ebenen unterscheiden: Zum einen hat die Justiz für mich ein durchaus ausgeprägtes Bewusstsein bei Fragen ihrer Unabhängigkeit und Neutralität gegenüber Politik und Parteien; das wurde in der Welser Erklärung von 2007 (eine Ethikerklärung der Richterschaft, Anm.) auch festgelegt; zum anderen gelten auch für Staatsanwälte und Richter die Grundrechte, soweit ihre Amtsführung nicht beeinträchtigt wird.

Weil es zuletzt immer auch um die chronische Unterdotierung der Justiz ging: Wie steht es eigentlich um die finanzielle Ausstattung des VfGH?

Unser Budget wurde in der Vergangenheit immer wieder sehr wohl an die höhere Belastung angepasst. Die Flüchtlingswelle ab 2015 hat allerdings zum erneuten Anstieg der Fallzahlen geführt, 2019 hatten wir rund 5200 Fälle. Heute finden wir deshalb mit den bestehenden Finanzmitteln nicht mehr das Auslangen, wir brauchen eine personelle Aufstockung, um eine Verfahrensdauer von derzeit vier Monaten und eine hochstehende Prüfqualität beizubehalten. Jeder unserer 14 Richter arbeitet momentan mit drei Mitarbeitern, jetzt haben wir um eine Aufstockung unseres Personalstocks von rund 100 Mitarbeitern um insgesamt 5 Planstellen angesucht.

Vor einigen Monaten hat der VfGH das türkis-blaue Überwachungspaket aufgehoben. Wie weit darf staatliche Überwachung gehen?

Wir dürfen hier nicht aus dem Blick verlieren, dass Datenschutz ein noch relativ junges Grundrecht ist, das erst seit den 1970ern mit der technischen Entwicklung an Bedeutung gewonnen hat. Eben diese Entwicklung hat sich seitdem weiter extrem beschleunigt. Das Problem ist, dass mit zunehmenden Daten auch die Möglichkeiten steigen, ein umfassendes Bewegungs- und Persönlichkeitsprofil der Bürger zu erstellen, weshalb die Rechtsprechung zwangsläufig mit der technischen Entwicklung mitziehen muss.

Genau das hat der Gesetzgeber mit dem Sicherheitspaket auch versucht.

Es gilt dabei eben stets die Balance zu halten zwischen der Freiheitssphäre des Einzelnen und dem Interesse des Staates am Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Bürger. Konkret war das Problem, dass die Einrichtung eines Rechtsschutzbeauftragen heute nicht mehr genügt, um die Kontrolle im Sinne der Bürger wirksam einzulösen.

Das führt wieder zur Frage der von der Regierung geplanten Sicherungshaft, die den Grat zwischen Freiheit und Sicherheit berührt. Müssten Sie als Verfassungshüter nicht sagen: Bis hierher und nicht weiter?

Das ist zweifellos die Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs. Artikel 5 Absatz 1 der Menschenrechtskonvention sagt: Jedermann hat ein Recht auf Freiheit und Sicherheit. Das heißt, dass Freiheitsentziehung nie Selbstzweck sein kann. Freiheitsentziehung ist einer der massivsten Grundrechtseingriffe. Daher ist das Grundrecht der persönlichen Freiheit anders strukturiert als die meisten anderen Grundrechte. Es sind nämlich die Tatbestände, aus denen ins Grundrecht auf Freiheit eingegriffen werden kann, taxativ aufgezählt und eng umschrieben. Daran hat sich ein Gesetzgeber zu halten. Und der Verfassungsgerichtshof muss es als sein Prüfprogramm betrachten.

Kürzlich wurde durch Medienberichte bekannt, dass Geheimdienste massiven Zugriff auf persönliche Daten nehmen. Offenbar führen hier Rechtsstaaten eine nicht rechtskonforme Überwachung sämtlicher Kommunikationsbereiche in einem Ausmaß durch, das unsere Debatte über Datenschutz leicht ins Lächerliche zieht. Wie kann sich ein Bürger dagegen schützen?

Wir haben in Österreich ein sehr ausgefeiltes System an Rechtsschutz, gerade auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung. Das ist vor einigen Jahren noch in eine neue Dimension gehoben worden durch die neue Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz. Bei Verdacht auf Verletzung des Datenschutzes hat man die Möglichkeit, die Rechtsschutzmechanismen der Datenschutzbehörde und in der Folge der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Verfassungsgerichtshofs in Anspruch zu nehmen.

Reicht das aus? In der Regel weiß der Einzelne ja nicht, wenn er von Geheimdiensten überwacht wird.

Es geht hier um Rechtsschutz im transnationalen Bereich - ein Themenbereich, der uns Verfassungsjuristen zunehmend beschäftigt. Der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg hat sich aus diesem Grund zu einem sehr strengen Gericht gemacht, was den Bereich Datenschutz betrifft. Und zwar nicht nur hinsichtlich privater Unternehmer, sondern auch des staatlichen Bereichs, etwa in den USA.

Würden Sie Ihre Hand ins Feuer legen, dass es im Bereich der Jurisdiktion des EuGH keine unzulässige Überwachung von Bürgern gibt?

Eine Antwort auf diese Frage würde meine Möglichkeiten völlig überschreiten.

Wie beurteilen Sie allgemein die Situation der Grundrechte in Österreich?

Wir haben eine hohe Sensibilität in diesem Bereich. Ich weiß aber aus Gesprächen mit dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, dass beispielsweise der Maßnahmenvollzug in Österreich eine große grundrechtliche Herausforderung ist. Da geht es etwa um Personen, die straffällig geworden, aber aus Gründen ihrer psychischen Gesundheit nicht straffähig sind. An sich ist unser Rechtsschutzsystem gerade im Grundrechtsbereich im internationalen Vergleich sehr gut aufgestellt.

Das österreichische Verfassungsrecht ist sehr kompliziert, wesentliche Bestimmungen verbergen sich irgendwo in den Gesetzbüchern. Halten Sie eine Neukodifikation der Bundesverfassung für notwendig?

Wir Juristinnen und Juristen haben gelernt, mit der Verfassung, wie sie vor uns liegt, zu arbeiten und uns in den Gesetzbüchern die verstreuten Bestimmungen zusammenzusuchen. Im Regierungsprogramm findet sich das Projekt über die Wiederaufnahme von Verhandlungen über einen einheitlichen Grundrechtskatalog. Das macht durchaus Sinn, es hieße, Grundrechte aus dem Staatsgrundgesetz von 1867, aus der Menschenrechtskonvention und eventuell aus der EU-Grundrechtecharta zusammenzuführen. Das hätte den Vorteil, dass ein Herzstück der Verfassung für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger sichtbarer wird.

Der staatliche Aufbau Österreichs wurde vor hundert Jahren mit der Bundesverfassung festgeschrieben. Müsste man einen Staat im 21. Jahrhundert nicht ganz anders aufbauen? Ist der föderale Aufbau noch zeitgemäß?

Ein Aspekt ist mir bei der Befassung mit mittel- und osteuropäischen Staaten bewusst geworden. Der Bundesstaat hat neben den landläufigen Begründungen, die immer geliefert werden, noch eine ganz wichtige Eigenschaft: Er ist ein zusätzliches Element der Gewaltenteilung. Wenn einmal die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten, was bei uns nicht der Fall ist, aber sehr wohl in anderen Staaten der Europäischen Union, dann ist die Verteilung von Macht auch im Bereich des Föderalen ein zusätzliches Sicherungsnetz. Und zwar dann, wenn es Entwicklungen gibt, die die Demokratie gefährden.

Es gibt die Forderung, den Klimaschutz oder auch die Sicherung des Wirtschaftsstandorts als Staatszielbestimmung in die Verfassung aufzunehmen; Tierschutz ist es bereits. Erhöhen derlei Bestimmungen die Macht der Verfassungsrichter, Entscheidungen über die Politik zu treffen?

Staatszielbestimmungen sind etwas, mit dem der Verfassungsgerichtshof umzugehen gelernt hat. Man sollte sie in der Praxis der Auslegung aber nicht überbewerten. Staatszielbestimmungen vermitteln keine subjektiven Rechte, sondern können allenfalls einen interpretationsleitenden Gesichtspunkt bilden. Aber eben nur einen von mehreren. Ich denke nicht, dass ein Mehr an Staatszielbestimmungen die Machtbalance zwischen Politik und Gerichtsbarkeit verschiebt.

Man hat mitunter den Eindruck, dass der VfGH in die Rolle des Gesetzgebers schlüpft. Beispielsweise gab es bei der rechtlichen Weiterentwicklung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften eine Reihe von Entscheidungen, die der Gesetzgeber so nicht getroffen hätte. Maßt sich der VfGH hier eine Rolle an, die ihm nicht zusteht?

Der Verfassungsgerichtshof wählt sich diese Rolle ja nicht selbst. Es ist die Folge von konkreten Anfechtungen. Oder auch die Folge dessen, dass der Gesetzgeber etwas nicht tut, was er tun hätte können. Der VfGH ist dem Gesetzgeber vergleichbar, was die Wirkung seiner Entscheidungen betrifft. Der Unterschied ist, dass der VfGH mit den Mitteln des Rechts argumentiert und dadurch zu einer anderen Entscheidung kommen kann als die Politik.

Das Interview führte die "Wiener Zeitung" gemeinsam mit den "Salzburger Nachrichten".

Zur Person: Christoph Grabenwarter, geboren am 4. August 1966 in Bruck/Mur. Mit Doktorat abgeschlossen Studien Jus und Handelswissenschaften. Lehrtätigkeiten an den Unis Linz (bis 1999), Bonn (bis 2002) und Graz (bis 2008). Danach bis heute Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seit 2006 Mitglied der Venedig-Kommission des Europarats, Präsident des österreichischen Juristentags seit 2015. Mitglied des VfGH seit 2005, ab 2018 Vizepräsident des Höchstgerichts.