Am 30. Mai 2019 wurde in Österreich Geschichte geschrieben. Bundespräsident Alexander Van der Bellen verkündete, dass Brigitte Bierlein eine Übergangsregierung bilden soll. Die frühere Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes wurde zur ersten Bundeskanzlerin Österreichs – wenn auch nur kurz und als Provisorium. Im Herbst gab es Neuwahlen. 218 Tage währte Bierleins Amtszeit. In Deutschland regiert Angela Merkel schon eine gefühlte Ewigkeit. Sie ist seit 2005 Kanzlerin. Norwegen hat seit 2013 mit Erna Solberg eine Premierministerin und in Finnland amtiert seit Dezember 2019 Sanna Marin als jüngste Ministerpräsidentin (34) des Landes.
Das Bewusstsein für eine Gleichstellung von Frauen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft wächst. Die türkis-grüne Regierung wird zwar wieder von einem Mann angeführt, doch die Regierung besteht zu 53 Prozent aus Frauen. Neun der insgesamt 17 Posten (inklusive Staatssekretäre) sind weiblich besetzt. Noch nie war eine Regierung weiblicher.
Kurz setzte bereits bei den Wahlen 2017 auf die Frauenkarte, sagt die Politikwissenschafterin Birgit Sauer von der Universität Wien. Die ÖVP warb mit dem Reißverschlusssystem, wonach einem Mann auf der Liste eine Frau folgt und umgekehrt. "Geschlechtergleichstellung hat immer ein Moment der Modernisierung. Parteien versuchen, sich damit ein anderes Image zu geben", sagt Sauer.
Dennoch sind Frauen in der österreichischen Politik noch immer unterrepräsentiert. Bundespräsidentin? Gab es noch nicht. Landeshauptfrau? Derzeit eine. Bürgermeisterinnen? Gerade mal acht Prozent. Es gibt also noch viel Luft nach oben.
Frauen durften erst ab 1918 wählen
Dass Frauen in der politischen Landschaft in der Minderheit sind, hat zum einen historische Gründe. Frauen durften im 19. Jahrhundert nicht wählen und sich auch nicht in Parteien organisieren. Das Wahlrecht wurde ihnen erst 1918 zugestanden. "Historisch gesehen ist Politik immer noch männlich", sagt Sauer. Zum anderen sieht sie die Parteien in der Verantwortung. Sie seien die "Gatekeeper der Demokratie": Parteien rekrutieren das politische Personal, sie erstellen Listen für die Wahlen vom Gemeinderat bis zum Nationalrat. "Parteien haben sich lange Zeit nur als Männerparteien verstanden. Die Grünen waren in den 1980er-Jahren die ersten, die eine Quotierung eingeführt haben", sagt Sauer, die eine gesetzliche Quote befürwortet. Von allen Parlamentsklubs haben derzeit die Grünen mit 57 Prozent den größten Frauenanteil, gefolgt von der SPÖ mit 47 Prozent. Die Neos haben einen Anteil von 40 Prozent, die Volkspartei liegt bei 36 Prozent, den niedrigsten Anteil haben die Freiheitlichen mit 16 Prozent.

Dabei hat der Nationalrat mit knapp 40 Prozent weiblichen Mandataren so viele wie noch nie. Bis dahin war es ein langer Weg. 1919 zogen mit Anna Boschek, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel, Maria Tusch und Hildegard Burjan die ersten acht Frauen in den Nationalrat ein. Doch danach änderte sich fünf Jahrzehnte nichts: Von 1919 bis 1975 betrug der Frauenanteil nie mehr als 6,7 Prozent. Erst ab 1975 begann ein langsamer Anstieg. "Das liegt daran, dass die Sozialdemokratie die Frauen als Wählerschaft entdeckt hat", sagt Sauer. Frauen sind in den 1970er-Jahren stärker in die höhere Bildung gekommen, waren mehr erwerbstätig und auch selbstständiger. "Die Sozialdemokraten haben mehr Frauen aufgestellt, um diese Wählerinnen zu gewinnen."
Frauen in politischen Ämtern haben eine wichtige Vorbildwirkung. "Es hat einen Verstärkereffekt, wenn mehr Frauen im Parlament sind." In einem Forschungsprojekt hat Sauer anhand der Ausgangsfrage "Warum klappt die Quote nicht?" Interviews mit allen im Parlament vertretenen Parteien geführt, die eine Quote haben, also ÖVP, SPÖ und Grüne. "Die Politikerinnen haben gesagt, für sie sei eine Quote wichtig. Denn sie sehen: Ich habe eine Chance."

Traditionelle Geschlechterbilder in Österreich
Die Politologin sieht auch einen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Frauenbild. "In den skandinavischen Ländern war man fortschrittlich bei der Erwerbstätigkeit von Frauen und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf." Der Frauenanteil in der Politik ist in diesen Ländern höher. In Schweden liegt der Anteil der Frauen im Parlament bei 47,3, in Finnland bei 41,5 und Norwegen bei 40,8 Prozent. In Österreich hingegen würden noch sehr traditionelle Geschlechterbilder herrschen. "Man ist sehr familienbezogen und geht ganz stark davon aus, dass die Mutter beim Kind bleibt. Das hat Auswirkungen auf das Frauenbild in der Politik", sagt Sauer.
Während die Bundesregierung mit gutem Beispiel voranschreitet, zeigt sich in den Bundesländern ein anderes Bild. Die Landtage sind von Männern dominiert. Den höchsten Frauenanteil hat der Vorarlberger Landtag mit 42 Prozent, die wenigsten Volksvertreterinnen sitzen in der Kärntner Legislative. Dort beträgt der Anteil nur 22 Prozent. In Oberösterreich sind es 36 Prozent, in Tirol 31 Prozent. In den Landesregierungen haben die Steiermark und Tirol einen 50:50-Anteil. Die einzige Landeshauptfrau ist Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), die seit April 2017 in St. Pölten regiert. Seit Beginn der Zweiten Republik ist sie die dritte Landeshauptfrau. Waltraud Klasnic (ÖVP) lenkte als Pionierin von 1996 bis 2005 die Geschicke der Steiermark. In Salzburg war von 2004 bis 2013 die Landesspitze mit Gabi Burgstaller (SPÖ) weiblich besetzt.
Frauen in Gemeinden mehr fördern
Auf der untersten Ebene sind Frauen am wenigsten repräsentiert. Von allen 2096 Gemeinden haben 181 eine Bürgermeisterin. Das sind gerade mal 8,64 Prozent. Seit 2000 hat sich die Zahl der Bürgermeisterinnen vervierfacht, allerdings von einem sehr geringen Niveau ausgehend. Die meisten weiblichen Bürgermeister gibt es in Niederösterreich (69), gefolgt von Oberösterreich (36), der Steiermark (23) und Tirol (16). Im Burgenland regieren in zwölf Gemeinden Frauen, in Vorarlberg in neun und in Kärnten und Salzburg in jeweils acht. Die Zahlen könnten sich aber schon bald ändern. In Vorarlberg finden am 15., in der Steiermark am 22. März Gemeinderatswahlen statt.
Bürgermeisterwahlen sind meist sehr stark personalisiert. In der Regel sind es Männer, die im Ort gut vernetzt, in Sportvereinen engagiert und Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr sind. "Das Ergebnis unserer Interviews war, dass gerade auf Gemeindeebene Frauen nicht kandidieren wollen, weil es schwer mit dem Beruf zu vereinbaren ist", sagt Sauer. Denkbar wäre auch eine Änderung des Wahlsystems. "Mehrheitswahlsysteme bevorzugen immer Männer", sagt Sauer. Sie plädiert für eine strikte Quotierung der Wahllisten für Landesparlamente und den Nationalrat. Das Problem beim Reißverschlusssystem, bei dem einem Mann auf der Liste eine Frau folgt und umgekehrt, ist, dass auf Regionalebene die Parteien oft nur ein Mandat haben und dieses dann meist der Mann bekommt. "Man muss die ersten beiden Positionen der Listen mit Frauen besetzen", sagt Sauer. Nur wenn die Parteien dies konsequent machen, würden sie ihre Quoten erreichen.
Auch bei der Repräsentation von Österreich im Ausland besteht noch Nachholbedarf. Laut Außenministerium gibt es derzeit 32 Botschafterinnen. Der Frauenanteil liegt bei 35 Prozent und entspreche in etwa dem Gesamtfrauenanteil im höheren auswärtigen Dienst, heißt es aus dem Ministerium. "Bei Postenbesetzungen werden Frauen bei gleichhoher Qualifikation wie der höchst qualifizierte Mann gemäß gesetzlicher Regelung bevorzugt", so ein Sprecher. Um die Unterrepräsentation von Frauen zu beseitigen, gibt es einen Frauenförderungsplan. Er sieht vor, den Anteil weiblicher Mitarbeiter auf mindestens 50 Prozent zu bringen. Laut Ministerium sei man bemüht, dies laufend umzusetzen.