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Eisiges Wirtschaften zum Wohle der Genossen

Von Martina Madner

Politik

Warum Unternehmer 1898 zu Genossen wurden und es bis heute blieben - oder was von der Eisfabrik bis heute Bestand hat.


Es sind die feinen Härchen in der Nase, an die sich offenbar als erstes spürbar Frost anlegt. Schon nach kurzer Zeit fühlt sich die dünne Haut rund um die Augen und die Nasenspitze klamm an. Zunehmend kälter werdende Fingerspitzen beweisen, dass sich die mitgebrachten Raulederhandschuhe für diese Umgebung als ungeeignet erweisen. Der Kältemantel über der Winterjacke ist dagegen nicht nur unförmiges, sondern brauchbares, weil wohlig warm haltendes, wenn auch notwendiges Accessoire - und zwar in der Genossenschaft "Vereinigte Eisfabriken und Kühlhallen in Wien", die 1898 unter dem Namen "Eisfabrik der Approvisionirungs-Gewerbe in Wien" gegründet wurde.

Damit es in der großen Kühlhalle nicht über minus 27 Grad "warm" wird, blasen Ventilatoren unter der Decke mit immer wiederkehrendem Brummen in der Ammoniakkompressionsanlage auf minus 31 Grad gekühlte Luft herein. Es ist ein Ort, "wo es das ganze Jahr über schneit", sagt Roland Spitzhirn, Geschäftsführer der Genossenschaft. Zumindest im Vorraum sieht es so aus: Denn die sperrigen Kunststoff-Lamellenvorhänge und Tore verhindern das Eindringen wärmerer Luft aus dem Freien nicht gänzlich. Gefrorene Luftfeuchtigkeit glitzert da also wie Schneekristalle.

Plötzlich heißt es: rasch ausweichen. Mitarbeiter in Dienstkleidung - hier sind das Fliegermützen mit Fell, dunkelblau-rote Wärmejacken, gepolsterte Thermohosen, dicke Handschuhe - brausen auf zwei Gabelstaplern in die große Kühlhalle.

"Der Erdbeerzug ist angekommen", lautet die Erklärung. Es ist kein Zug im eigentlichen Sinn, die Gleise zur Eisfabrik sind zwar noch sichtbar, aber seit 20 Jahren stillgelegt und zunehmend mit Gras überwuchert. Damals wurden noch Schweine- und Rinderhälften angeliefert und schockgefrostet, heute ausschließlich verpackte Ware. Es gilt also, Paletten mit tiefgefrorenen Erdbeeren auf einigen der 15.000 Palettenplätze im Hochregal zu verstauen.

Genossenschaftliche Geschäfte

Es ist das Kerngeschäft der Eisfabriken heute: die Lagerung von Waren der Systemgastronomie, des Lebensmittelgroßhandels und der Pharmafirmen, dazu etwas Warenkommissionierung, also das Umpacken von großen in kleinere Gebinde. Zu solchen Großkunden kommt eine Vielfalt an Kleinkunden aus dem Einzelhandel und der Gastronomie. In den kleineren Kühlräumen lagern türkische Datteln, jiddisch beschriftete Kühlkartons, Speisefische im Restaurantgebinde und anderes mehr interkonfessionell friedlich vereint. Alles zusammen sorgt für rund sechs Millionen Euro Umsatz im Jahr.

Die Eisproduktion, die dem Namen gemäß erwartbar wäre, beschränkt sich heute auf einige wenige Blöcke für Theater und Film, wie zum Beispiel für das Burgtheater, "weil es auch Spaß macht, das erzählen zu können", sagt Spitzhirn. Weil es den Mitarbeitern Spaß mache, die Blöcke in Handarbeit zu gießen: erst zehn Zentimeter Wasser, dann frieren lassen, wieder Wasser - sonst wird der Block kein akkurater mit rechten Winkeln, sondern ein für die Bühnen unansehnlicher mit Buckeln.

Auch im Hochregal soll sich ein Eisblock befinden - allerdings in Klarsichtfolie verpackt, gut verstaut und damit unsichtbar. Sichtbar sind Paletten mit in blauen Plastikrollen verpackten, feingehackten rohen Zwiebeln für die Systemgastronomie, wie Etiketten Auskunft geben. Ein gut einen Kubikmeter fassender Karton mit Champignons reiht sich an einen mit Speiseeiskartons. Ganz hinten sollen sich Blutprodukte eines Pharmaunternehmens befinden.

Lebensmittel und Blut in einem Raum? "Kein Problem, da ist alles sonst vielleicht Gefährliche tot", erklärt Spitzhirn und kann sich ein Lächeln angesichts solcher Unwissenheit nicht verkneifen. Nicht einmal theoretisch könne bei dieser Kälte etwas von einer Palette auf die nächste springen. Alles habe seine Ordnung, das werde wiederholt geprüft und amtlich zertifiziert: vom Veterinäramt, der Agentur für Ernährungssicherung, per "Hazard Analysis Critical Control Points", einer Gefahrenanalyse für den Lebensmittelbereich. Man habe ein Zertifikat, Biolebensmittel lagern zu dürfen, und verschiedene externe Audits internationaler Gesundheitsbehörden für den Pharmabereich durchlaufen.

Arbeiten im eisigen Umfeld

Also reihen sich Palette an Palette risikolos aneinander, vier mal übereinander, in vielen auseinanderfahrbaren Regalzeilen hintereinander. Die Waagmeisterin der Halle lenkt rasch, weil seit mehr als 20 Jahren routiniert, zur Illustration ihrer Arbeit hier ihren Stapler durch.

Es ist ein auf den ersten Blick unwirtlicher Arbeitsplatz hier in den Eisfabriken. "An die Kälte gewöhne man sich nie", erzählt ein Mitarbeiter später. Nein, kalt ist ihm nicht, sagt er, obwohl er sich gerade die Hände reibt. Er hatte gerade Mittagspause und schließlich ist Winter. An Tagen mit hoher Luftfeuchtigkeit, so wie diesem, dauert das Aufwärmen länger. Es ist Schwerstarbeit, die die 16 Mitarbeiter in den Kühlhallen leisten. Die Wärme-Kälte-Unterschiede seien körperlich anstrengend, trainieren könne man das nicht, man muss "nur" einen Stapler-Schein haben. Nach 45 Minuten im Eis folgt eine 15-minütige Aufwärmpause.

Insgesamt sind es 25 Mitarbeiter, fünf weitere in der Betriebsleitung, vier in der Technik - der Großteil davon Männer. Der rote "Mann-im Raum-Alarm"-Knopf in den Kühlhallen, erinnert mehr daran, dass Erfrieren hier ein mögliches Szenario sein könnte, als dass im Notfall dadurch Hilfe kommt.

Auf den zweiten Blick wirkt der Arbeitsplatz im Eis dann doch attraktiver. Nicht nur, weil der Mann-im Raum-Alarm bislang noch nie nötig war. Die Eisfabriken haben ein weiteres Zertifikat: Sie sind ein "Great Place to Work". Drei der Beschäftigten feierten vergangenes Jahr ihr 35. Dienstjubiläum, zwei Drittel sind länger als zehn Jahre dabei - beides spricht für hohe Zufriedenheit.

Die Eisfabriken haben einen eigenen, im Vergleich zu anderen Lagerarbeitern besseren Kollektivvertrag. Es gibt nur Arbeit am Tag, keine in Schichten. Dazu fetten Betriebsvereinbarungen Löhne und Gehälter auf, versichert Spitzhirn. Und: "Der Genossenschaftsgedanke macht auch vor den Kunden und Mitarbeitern nicht halt. Da geht es auch um gegenseitige Fürsorge, um das Gemeinwohl."

Mit einer der größten Photovoltaikanlagen Wiens, die für 450.000 Kilowattstunden Strom sorgt, was jenem für 3200 Einfamilien-Häuser entspricht, deckt man künftig zehn Prozent des Bedarfs der Eisfabriken, verbessert also die Klimabilanz. Abwärme werde außerdem zur Beheizung der Räumlichkeiten verwendet.

Stürmische Gründungsjahre

Wohlig warm war es am 29. März 1898 nicht. Die "Wiener Zeitung" berichtete für Österreich-Ungarn von "vielfach bewölktem Wetter mit Niederschlägen im Osten" sowie 0 bis 5 Grad in Wien um sieben Uhr morgens. Berichtet wurde an diesem Tag auch von der "Versammlung der Approvisionirungsgewerbe" mit 2000 Personen in der Volkshalle des Rathauses, um eine genossenschaftliche Eisfabrik zu gründen.

"Das zur Fabriksanlage nothwendige Kapital wäre mit 500.000 Fl. festzusetzen und zerfällt in 10.000 Antheilscheine zu 50fl." Die Gastwirte alleine stellten Anteilsscheine im Wert von 125.000 Gulden. Ein Redner appellierte an alle, "das Werk thatkräftigst zu unterstützen, um anläßlich des Regierungs-Jubiläums Seiner Majestät des Kaisers ein Unternehmen ins Leben zu rufen, das dem Approvisionirungsgewerbe zum größten Vortheile gereichen soll".

Der Vorteil für die Genossen - neben Gastwirten auch Zuckerbäcker, Hotelbesitzer, Fleischhauer, Wildbrethändler, Kaffeesieder - bestand übrigens darin, sich gegen das Monopol der Wiener Krystall-Eis-Fabrik gemeinschaftlich zur Wehr zu setzen. Diese Fabrik hatte der Großindustrielle Moritz Faber bereits zehn Jahre davor gegründet und damit Natureishändler, die in den Armen der Alten Donau Eis schnitten und verkauften, weitgehend verdrängt. Er hatte auch den Titel "K&K Hofeisfabrikant", ein Gütesiegel, das nur Betrieben der "allerhöchsten" Klasse für herausragende Qualität verliehen wurde, inne. Der Winter 1897/1898 war eisarm, also warm - auch dadurch schossen die Preise nochmals hoch.

Der Gründung ging also ein beinharter wirtschaftlicher Verdrängungswettbewerb voraus. Die Genossen wollten günstigere Preise für Eis generieren. Und: "Ganz im Sinne der Sharing Economy eine Plattform, um flexibel und kooperativ gemeinsam zu wirtschaften", wie Peter Haubner, Vorstandsvorsitzender des Österreichischen Genossenschaftsverbands, wo neben den Volksbanken heute rund 150 gewerblichen Genossenschaften organisiert sind, das heute neusprachlich ausgedrückt. "Gemeinsames Wirtschaften zum Wohle der Mitglieder und nicht auf Gewinn ausgerichtet", beschreibt Spitzhirn das Wesen der gewerblichen Genossenschaft.

Noch in der Versammlung von 1898 folgte der Idee "stürmischer Applaus", wie die Wiener Zeitung vermerkte, der Beschluss zum Bau dann am 9. Mai. Das ist in der Gedächtnis-Urkunde des Kaisers Franz Josef I. vom 2. Dezember 1989 vermerkt, die heute im Sitzungszimmer der Fabrik hängt, neben einem Gemälde desselben übrigens. "Nicht, weil wir hier heute alle Royalisten sind", sagt Spitzhirn, präsentiert aber nicht ganz ohne Stolz das vom Kaiser beurkundete Tun der Gründer. "Des Allmächtigen Schutz walte über diesem Werke, damit dasselbe zu Nutz und Frommen aller daran Betheiligten glücklich vollendet werde", gab seine Majestät ihnen damals per Urkunde mit auf den Weg.

Passende Anpassung

Die kaiserlichen Wünsche fanden offenbar ihren Widerhall: Die Fabrik versorgte erst mit Pferdegespann und per Rückenbuten die Geschäftslokale mit Natureisblöcken aus der Donau. Ein Plan des Firmengeländes aus dem Jahr 1910, wo neben einer Pferdeschwemme auch das Kohlenlager zu sehen ist, belegt, dass das Eis spätestens ab dann mit Kohlegenerator und Druck erzeugt wurde. Die genossenschaftliche Vereinigung hatte offenbar Erfolg: 1917 kaufte man den einstigen Konkurrenten, die Krystall-Eis-Fabrik auf, der "K & K Hofeisfabrikant" musste also ein Jahr vor der Monarchie abtreten.

1930 erreichte die Eisproduktion ihren Höhepunkt, geliefert wurde zu diesem Zeitpunkt bereits per Lkw. Mit dem Einziehen der ersten Kühltruhen in die Geschäftslokale der Genossen, verlor die Block-Eis-Produktion an Bedeutung. Für die Genossen machte ab 1931 die Kohlensäure- und Trockeneisproduktion Sinn.

1939 bis 1941 wurde das erste Kühlhaus errichtet. Sonst weiß man bei den Eisfabriken nichts über das Verhalten der Genossen während des Nationalsozialismus. In den Zeitungen während des Zweiten Weltkriegs ist vor allem von Ergebnissen der betrieblichen Sportvereine der Genossenschaft zu lesen, einigen, wenigen Unfällen, und an heißen Tagen von der Produktion.

Zumindest einmal boten die Eisfabriken offenbar einer lokalen Nazi-Größe Raum für eine Veranstaltung. Ein anderes Mal behauptet der Völkische Beobachter in einem Rückblick, dass sich die Betriebe mit der Gründung der Genossenschaft von der "ungesunden Spekulation mit Eis freimachen" haben wollen, also antisemitische Beweggründe. Allerdings war Moritz Faber nach rassistischen NS-Kriterien Deutscher, eigentlich Bad Ischler.

Veröffentlicht wurden auch Hauptversammlungstermine. Ob und wie die Eisfabriken Vorstand und Aufsichtsrat veränderten, bleibt aber unklar. Klar geht aus einem Blick in ein Protokollbuch nur hervor, dass eine Hauptversammlungssitzung 1942 mit "Heil Hitler" eröffnet wurde - und dass man diesen Teil der Geschichte "nicht historisch analysiert hat" und an den Wänden des Sitzungsraums keine Fotos aus der Zeit sind.

Fotos gibt es wieder aus den 1960er und 1970er-Jahren. 1964 erfolgte der Bau eines zweiten Kühlhauses, dabei ein medial besser dokumentierter Unfall: Bei den Bauarbeiten bracht im Tiefkühlhaus ein Feuer aus, "fraß sich in Windeseile durch das Ziegelmauerwerk", hieß es in der "Arbeiter Zeitung". Zwei in einem Raum eingeschlossene Mitarbeiter, starben. Das war der größte, zugleich "auch der einzige Unfall hier."

Beide Kühlhallen sind nach Umbauten, Erweiterungen und Modernisierungen heute noch in Betrieb. Die Trockeneisproduktion wurde eingestellt, jene der Kohlensäure in den 1990ern an "Linde Gas" verkauft.

Unter den rund 60 Mitgliedern heute sind hauptsächlich die Nachfahren der damaligen Gewerbetreibenden, zum Beispiel jene der Fleischhauereien Adler oder Trünkel. Was das Enkerl oder Urenkerl davon hat? "Eine kleine Dividende am Jahresende", sagt Spitzhirn. Unter jenen, die heute Waren einlagern, sind kaum Genossen, man habe "langjährige Geschäftsbeziehungen über Jahrzehnte hinweg". Aber auch das könne man per Antrag auf Aufnahme ändern, "um als Mitglied bessere Preise zu lukrieren und Zukunft des Lagerungsbetriebes zu garantieren" - so wie damals beim Eis.