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"Trauer und Wut sind nichts für mich"

Von Martina Madner

Politik
"Altersarmut ist weiblich": Wenig Einkommen auch in Folge der Kinderbetreuung war in Gertrude Mosers Fall ein Grund für den "Klassiker".
© Lisi Specht

Eine von Armut betroffene Frau reflektiert am Wien-Fluss, wie sie in diese Situation kam und damit heute umgeht.


Obwohl der Wien-Fluss in ihrer Kindheit dafür verantwortlich war, dass sie in einer feuchten, schimmligen Wohnung lebte, sucht sich Gertrude Moser (Name von der Redaktion geändert) entlang dessen den Weg aus, um aus ihrem Leben zu erzählen. Wie sie die Armut in der Kindheit verspürte, warum die Phase, in der es ihr finanziell besser ging, nicht von Dauer war. Und wie sie heute mit dem "Klassiker", wie sie es beschreibt, Frauenarmut im Alter umgeht.

"Wiener Zeitung": Gab es bei Ihnen ein Schlüsselerlebnis, bei dem Sie bemerkt haben, dass Sie zu den von Armut Betroffenen gehören?

Gertrude Moser: Nein, eigentlich nicht, weil ich von Kind an von Armut betroffen bin. Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, weil das nicht anders möglich war. Meine Eltern haben arbeiten müssen, beide hatten eine gute Ausbildung, haben aber in ihren Berufen keine Beschäftigung gefunden. Würde man zwar nicht meinen in der Wirtschaftswunderzeit, war aber so. Meine Mutter hat in einer Fabrik gearbeitet, mein Vater hatte immer mehrere schlecht bezahlte Jobs gleichzeitig. Für Kinderbetreuung war da überhaupt keine Zeit, sie haben damals auch nicht 40, sondern 60 Stunden pro Woche gearbeitet. Da war auch am Samstag zu arbeiten. Am Wochenende war ich aber immer bei meinen Eltern.

Wie haben Sie damals gewohnt?

Die Wohnverhältnisse waren katastrophal, Die Qualität war furchtbar, kalt, feucht, schimmelig, kein Sonnelicht, das Übliche halt in einer Zinskaserne, die um die Jahrhundertwende gebaut worden war. Es war ein Bassena-Haus mit Wasser und Klo am Gang. Zum Duschen sind wir einmal in der Woche ins Tröpferlbad gegangen. Meine Großmutter hatte auch noch eigene Kinder, die sie mit mir versorgen musste. Wir haben also sehr beengt gewohnt. Sie war aus einer Zeit, um die Jahrhundertwende geboren, als man als Frau sehr viele Kinder hatte, manche davon sind auch gestorben. Sie hat zwei Kriege erlebt, eigentlich überlebt.

Wie war das Leben bei Ihrer Großmutter für Sie?

"Shit happens. Und ich mach das Beste daraus, wenn es nicht besser geht, dann ist das eben so."
© Lisi Specht

Gar nicht schlimm, weil ich nichts anderes kannte. Armut war für mich Normalität. Das hat man auch selbstverständlich beim Essen bemerkt. Wir haben uns manchmal auch über die Situation lustig gemacht. Ich kann mich noch an eine Geschichte mit meinem Onkel erinnern. Er hat das wirklich sehr dünn geschnittene Brot gegen die Lampe gehalten. Das hätte er nicht machen sollen, man konnte durchschauen. Aber man hat das eben mit Humor genommen und überspielt. Im Prinzip habe ich aber nie Mangel verspürt, ich kannte es ja nicht anders.

Damit war Mangel Normalität?

Ja genau, ich habe schon eine Phase ohne Armut erlebt, aber deshalb hat es mich vermutlich auch später nicht so getroffen, als ich wieder in der gleichen Situation war.

"Wäre ich alleinstehend und nicht alleinerziehend gewesen, hätte ich mein ganzes Leben lang keine Probleme gehabt."
© Lisi Specht

Wie sind Sie aus der Armut in der Kindheit herausgekommen?

Ich habe eine gute Ausbildung gemacht, bin durch Zufall in ein Gymnasium gegangen. Wäre um die Ecke eine Hauptschule gewesen, hätte ich die besucht. Also hab ich Matura gemacht, einen guten Job gehabt, im Büro gearbeitet, im Backoffice, Buchhaltung, Finanzen kontrolliert, habe gut verdient. Dann auch geheiratet, mein Mann hat auch gut verdient. Double-Income-No-Kids eben.

War das schon als Kind Ihr Ziel?

Natürlich, vor allem, wenn man Bildung hat, ist es keine Option, in der Situation zu verharren. Mit Hauptschule, mit anderem Partner, hätte das vielleicht anders ausgesehen. Aber wer weiß schon, was gewesen wäre. Wir hatten also eine schöne Wohnung, auch in der Freizeit etwas unternommen, sind zum Beispiel Ski fahren gegangen, ein Wahnsinn, dass das dann ging. Das ging in der Kindheit nicht. Aber wir sind eislaufen gegangen, eh gleich hier beim Wiener Eislaufverein. Das war schon etwas Besonderes, meine Mutter hat mich immer begleitet, weil sie die Einzige war, die eislaufen konnte. Es war auch etwas Besonderes, auch weil ich mit meiner Mutter nicht so viel Zeit verbringen konnte.

Waren Sie nicht viel alleine damals?

Es ist immer auf alle aufgepasst worden, weil es oft Situationen gab, in die man als normaler Mensch nicht kommen würde. Es gab auch Übergriffe. Wir haben ja nicht in Döbling gewohnt. Es gab Kleinkriminalität, auch eine Distanzlosigkeit hat da vorgeherrscht. Die Gegend hat damals auf gut Wienerisch Ratzenstadl geheißen, neben der Laimgruben (Lehmgrube, Anm.). Das waren Wohngegenden, die nicht privilegiert waren. Heute ist das eine Schickimicki-Gegend mit hohen Mieten. Aber damals war es das eben nicht.

Als es Ihnen dann besser ging: Was hat Sie aus dieser Zeit noch weiter beschäftigt? Haben Sie das einfach abschütteln können?

"Armut war für mich Normalität. Aber man hat das eben mit Humor genommen und überspielt."
© Lisi Specht

Die Armut war zu dieser Zeit eigentlich kein Thema für mich. Das kam erst später, als ich alleinerziehend war. Dann hat mich die Armut beschäftigt. Als Kind fühlt man sich ja auch nicht verantwortlich dafür, da gehört man einfach zur Familie dazu. Aber dann, also als ich selber Kinder hatte, da fühlt man sich verantwortlich dafür. Da kommen Schuldgefühle dazu, dass ich meine Kinder dieser Situation aussetze. Die hatte ich vorher nie.

Warum hatte das bessere Leben wieder ein Ende? Kam das mit einer Scheidung?

Einer Trennung, aber es ist wie so oft nicht ein einzelner Grund gewesen, sondern mehrere zusammen. Da gab es Gewalt in der Familie, deshalb die Trennung. Gar nicht so weit gekommen wäre es vermutlich, wenn ich einen vernünftigen Partner gehabt hätte. Ich habe die falsche Wahl getroffen, sonst wäre das vermutlich nie passiert. Ich wurde krank, von Vollzeit oder dauerhaftem Arbeitsplatz war da keine Rede mehr. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß, da hängt vieles zusammen, greift ineinander. Alleine durch Stress kann ganz viel passieren. Für mich als dann alleinerziehende Mutter, die noch dazu eine Einschränkung der Erwerbstätigkeit hatte, wurde es jedenfalls eng.

Konnten Sie sich in dieser Zeit Hilfe suchen? Hat Sie jemand unterstützt?

Ich habe einiges ausprobiert, das war aber alles nicht zielführend. Das Einzige, was ich an Hilfe in Anspruch genommen habe, war eine langjährige Therapie, die die Krankenkasse auch bezahlt hat. Die hat genützt. Ich bin mir zwar sicher, dass ich auch ohne Therapie aus dieser Situation rausgekommen wäre, aber mit war es leichter.

Kamen Sie im Anschluss auch finanziell wieder auf die Beine?

"Es ist auch gut, wenn man offene Augen für seine Umgebung hat, wenn man nicht weg-, sondern hinschaut."
© Lisi Specht

Das nicht, aber ich konnte die Situation besser aushalten. Ich konnte wieder besser damit umgehen. Ich habe ja versucht, alles unter einem Deckel zu halten. Ich wollte das alles von den Kinder fernhalten, sie nicht spüren lassen, dass es Probleme gibt. Kinder haben aber ein sehr feines Gespür für Menschen, für Situationen. Es war natürlich nicht zu verhindern, dass sie wussten, dass wir finanzielle Einschränkungen haben, schon alleine, weil sie manches nicht haben konnten. Das merkten sie bei Schulsachen, bei der Kleidung, wo man nicht auf die Marke schauen kann - die klassischen Alleinerziehendenprobleme eben. Man kauft günstig, überlegt einmal mehr, ob etwas überhaupt notwendig ist - auch bei Freizeitaktivitäten.

Was haben Sie damals in Ihrer Freizeit gemacht?

Schwimmen gehen war möglich, auch weil die Stadt es ermöglicht hat, dass die Kinder gratis ins Schwimmbad konnten. Ich hatte eine günstige Jahreskarte. Ja, Schwimmen war möglich und auch notwendig, weil Sport sein muss.

Hat sich die finanzielle Situation auf Ihre Gesundheit ausgewirkt?

Ja natürlich, das ist bis zum heutigen Tag so. Wenn man kein Geld hat, kann man sich keine Reha leisten, oder Medikamente, von denen man weiß, dass sie zwar am besten helfen, die Krankenkasse aber nicht bezahlt. Ein Klassiker bei vielen sind die Zähne, die man nicht sanieren lassen kann. Daran sieht man, dass jemand von Armut betroffen ist. Kaputte Zähne haben ja auch Auswirkungen auf die Gesundheit des Körpers, auch auf die Psyche, auch gesellschaftlich, weil ich damit ganz andere Resonanz erziele, als mit intakten Zähnen.

Damit ist es auch schwierig, wieder Arbeit zu finden. Wie ist Ihnen das nach Ihrer Therapie gelungen?

Ich habe eigentlich immer gearbeitet, auch während ich krank war, meistens aber in Teilzeit in prekären Jobs. Die Kinder haben auch viel Zeit gebraucht, das war mehr der Grund als die gesundheitlichen. Nicht falsch verstehen: Mir tut es nicht leid, dass ich in meine Familie so viel Zeit investiert habe. Aber: Wäre ich alleinstehend und nicht alleinerziehend gewesen, hätte ich mein ganzes Leben lang keine Probleme gehabt, weiter Vollzeit gearbeitet und Karriere gemacht, das weiß ich. Es war aber eben nicht so.

Sie konnten Ihre Situation also nicht mehr verbessern?

Von wieder besser oder gut gehen, kann keine Rede sein. Es ist sich halt immer irgendwie ausgegangen. Das hat aber natürlich auch Auswirkungen auf meine heutige Situation. Ein Klassiker für Altersarmut bei Frauen. Altersarmut ist weiblich. Ich will Männer da bewusst nicht ausschließen, aber es ist halt so, dass es meistens Frauen sind, die Kinder erziehen oder auch die Pflege in der Familie übernehmen. Diese enorme, wichtige Leistung am Beginn und am Ende des Lebens, wird in unserer Gesellschaft und von der Politik nicht gewürdigt. Speziell nicht finanziell, was eben zu Altersarmut führt. Wenn man in der Box mit einem geringen Einkommen steckt, bleibt man drinnen, auch in der Pension.

Hadern Sie damit?

Shit happens, es ist einfach so. Und ich mach das Beste daraus, wenn es nicht besser geht, dann ist das eben so. Heute habe ich überhaupt keine Probleme mehr damit, weil die Situation ja nur mich betrifft. Ja, dann ist es eben so.

Wie kann man das Beste daraus machen - mit wenig Geld?

Das Leben besteht nicht nur aus Dingen, die Geld kosten. Ich habe auch noch meinen Kopf, in dem ist auch ein Hirn drinnen - und mit dem kann man alles Mögliche anfangen. Verschiedenes lesen, nicht einseitig bleiben. Wenn ich mir eine Sache anschaue, die mich interessiert, dann schaue ich hinter die Kulissen. Heute mit Internet ist das natürlich noch viel besser möglich. Aber ich möchte das gedruckte Wort nicht missen. Bücher, Zeitungen. Ich lese sehr viel Zeitung. Einfach, um am Ball zu bleiben, um ein Gespür für das Jetzt zu haben. Aber es ist auch gut, wenn man offene Augen für seine Umgebung hat, wenn man nicht weg-, sondern hinschaut. Offen, neugierig bleiben, sich interessieren und engagieren. Das sind meine Strategien.

Tauschen Sie sich auch mit anderen von Armut Betroffenen aus?

Ja, ich habe meine verschiedenen Communities, in denen ich mehr oder weniger aktiv bin, zum Beispiel die Armutskonferenz, die von Armut betroffene Personen eine Plattform bietet. Da bin ich aktiv.

Warum ist das wichtig für Sie?

Weil das Thema wichtig ist. Weil sich was ändern sollte. Es ändert sich viel zu wenig, und wenn, dann nicht unbedingt zum Positiven, zum Beispiel bei der bedarfsorientierten Mindestsicherung, nun Sozialhilfe. Mich interessieren aber auch andere Themen, zum Beispiel der Klimawandel. Der betrifft armutsbetroffene Personen anders als die Gesamtbevölkerung. Es wird ja nicht nur heißer, es gibt auch mehr Temperatur-Sprünge, mehr Extreme. Das trifft arme Menschen, die nicht heizen können, mehr. Auch von der Hitze sind die alten Leute, die ich kenne, hauptsächlich Frauen, sehr betroffen. Keiner von meinen Freundinnen und Freunden kann sich eine Klimaanlage leisten. Das ist ein neuer Aspekt. Wir leben nicht im luftleeren Raum, wir sind Herdentiere. Ich kann auf Probleme hinweisen, über Lösungsmöglichkeiten nachdenken. Aber die Entscheidungsträger in der Politik, haben es in der Hand, es auch zu tun.

Das politische Engagement, tut Ihnen das gut?

Ich habe kein Helping-Hands-Syndrom. Ich wäre auch viel zu ungeduldig für einen sozialen Beruf. Ich bin aggressiv, nicht wütend, oder sagen wir besser: Ich bin aktiv, kein passiver Mensch, der sich mit seiner Situation abfindet. Ich denke, so lange man kann, sollte man tun. Und deswegen tue ich. Aber ich interessiere mich auch für so wenig aggressive Dinge wie Kunst oder Kultur.

Gibt es etwas, dass Sie gerne machen würden, was aber nicht möglich ist?

Ich würde gerne reisen, das ist aber absolut unmöglich. Ich akzeptiere das. Weil es kostet mich viel zu viel Energie, mich darüber aufzuregen. Das zieht dich nur runter. Trauer und Wut sind nichts für mich. Das sind alles so negative Dinge. Das ist vielleicht die ganze Essenz, dieses "think positive".

Gelingt Ihnen das wirklich?

Bei Krankheiten ist es schon sehr schwer. Da muss ich mich wirklich anstrengen, dass ich nicht in eine negative Stimmung kippe. "Think positive" drückt das zu wenig aus. Wenn ich aber da in der Sonne sitze, ist es einfach. Die Natur ist ein Energiebringer. Ich liebe den Wienfluss - obwohl er verantwortlich war für die Laimgruben.

Und die feuchten Wohnungen früher.

Ja, die verursachte der Wienfluss. Er ist aber nicht schuld. Schuld waren ja die Häuslbauer, die sie dort hingestellt haben. (lacht)

Was würden Sie anderen Menschen in einer ähnlichen Situation raten?

Sich nicht damit abfinden. Sondern es immer wieder und wieder versuchen. Nicht nur auf Hilfe setzen. Ich sage "nur", weil das politisch missverstanden werden kann. Das heißt nicht, dass die Politik nichts zu machen braucht. Als unsere gewählten Vertreter, tragen sie auch die Verantwortung dafür, Hilfsangebote zu schaffen. Aber soweit es mir möglich ist, kann ich es weiter versuchen. Es wird mit Sicherheit Rückschläge geben, mehr Rückschläge als Erfolge. Aber wenn irgendwann ein Erfolg kommt, folgt auch ein zweiter. Eines meiner Mantras: Wenn ich kämpfe, kann ich verlieren. Aber wenn ich nicht kämpfe, habe ich schon verloren.