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Warum es Corona-Hilfe für Arme braucht

Von Martina Madner

Politik
Anders als sonst ist Gertrude Moser im Moment kaum im Freien unterwegs.
© Lisi Specht

1,2 Millionen Menschen, die kaum Geld zum Leben haben, treffen Mehrausgaben direkt. Nun kommt Hilfe für Familien.


Gertrude Moser freut sich über den Anruf. Denn anders als beim Spaziergang am Wien-Fluss, wo sie über ihr Leben als eine der vielen von Armut betroffenen älteren Frauen der "Wiener Zeitung" ein Interview gab, verbringt die fast 70-Jährige nun sehr viel Zeit zu Hause. "Ich geh fast überhaupt nicht raus", sagt sie. "Das ist ja eine Vorgabe der Regierung. Ich nehme an, dass da Expertise dahintersteht" - sie hofft, dass die Anzahl der Corona-Erkrankten "nicht mehr so steigt".

Es sei zwar schon sehr "beengt" in ihrer kleinen Wohnung, was ihr aber "wirklich sehr fehlt, ist die Bewegung draußen. Ich bin nicht so die, die mit Gymnastikmatte am Boden turnt." Museumsbesuche ersetzt sie durch Lesen, sie sagt aber auch: "Ich passe mich eben an, bin extrem resilient, nicht depressiv. Ich bin nicht einsam, kann auch ein Jahr lang zu Hause bleiben." Und trotzdem brauchen Moser und die anderen 1,2 Millionen Menschen, die von Armut betroffen sind, ebenfalls einen finanziellen Schutzschirm der Regierung.

Teureres Einkaufen

Moser plant den Weg zur Bank akribischer als sonst, weil sie ihre Miete einzahlen muss, als Spaziergang um sechs Uhr morgens. "Eine halbe Stunde hin und auch wieder zurück. Dann muss ich nicht mit den Öffis fahren und um diese Zeit bin ich sicher alleine in der Selbstbedingungslounge." Zu Supermärkten, wo sie sich einen Schal eng ums Gesicht wickelt, hat sie nicht weit; die Einkäufe sind jetzt aber teurer als sonst. "Weil es die Sachen, die ich immer kaufe, die billigen, nahrhaften, lange haltbaren, oft nicht gibt." Auf die greifen nun auch andere vermehrt zurück: "Linsen in der Dose zum Beispiel, da gibt es jetzt nur noch Biolinsen, die kosten vier Mal so viel und es ist nur so halb so viel drin."

Der nahe "Le+O-Markt", wo gespendete Lebensmittel und Hygieneartikel für einen Solidaritätsbeitrag von drei Euro ausgegeben werden, hat "leider ganz zu". Caritas und Pfarren betreiben sonst 17 in Wien und Niederösterreich davon, "80 Prozent der 1000 ehrenamtlichen Helfer sind aber in Pension, gehören zur Risikogruppe", sagt Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien. Vorübergehend hatten deshalb nur vier offen. Vorübergehend, "weil wir wieder voll hochfahren". 3500 jüngere Freiwillige hätten sich gemeldet, 500 verteilen nun Essenspackerl, mit Leitsystem und Abstand, wann und wo jeweils ist auf caritas-leo.at vermerkt.

Auch die beiden Sozialmärkte des Hilfswerks, wo es verzehrfähige Produkte mit überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum um 50 bis 90 Prozent günstiger gibt, haben offen. "Die Leute kommen zwar weniger oft, wir verkaufen aber mehr als sonst", sagt Peter Kohls, der Leiter der Geschäfte. Man erhalte auch Warenspenden der Gastronomie, freue sich über weitere - genauso wie die Caritas im Übrigen.

Beengtes, ungesundes Wohnen

Den Kontakt zu Familie und Freunden versucht Moser elektronisch aufrechtzuhalten. "Ich habe ja Internet, sehr viele haben das nicht." Eine Freundin habe auch keinen Fernseher, "die ist schon ein bisserl verzweifelt", telefoniert nun viel. Sonst geht diese oft ins "’s Häferl", ein Wirtshaus der Diakonie im sechsten Bezirk. Dort gibt es zwar nun auch Essenspackerl, "sonst aber konnte man auch drinnen sitzen, sich unterhalten, das fehlt den Leuten halt." Das "’s Häferl" ist nicht nur ein Treffpunkt für Wohnungslose, sondern auch andere von Armut betroffene.

Diese leben unter schlechteren Bedingungen: Oft müssen sich mehrere Personen ein Zimmer teilen, 58 Prozent der Kinder in Mindestsicherung leben zum Beispiel laut Statistik Austria in überlegten kleinen Wohnungen, also etwa auf 35 bis 60 Quadratmetern drei und mehr Personen. 989.000 Menschen leben hierzulande in feuchten, oft auch schimmligen Wohnungen. Viele von Armut betroffene sind deshalb krank: Im unteren Einkommensdrittel leiden die 40- bis 65-Jährigen fünf Mal häufiger unter schlechter Gesundheit als im obersten Drittel. Bei den Älteren ist der Unterschied zwar nicht so groß, mit 24 Prozent im Vergleich zu 18 Prozent sind aber auch da mehr krank. Von Armut Betroffene sterben um zehn Jahre früher.

Gesundheitlich geht es Moser aber soweit gut, was die 70-Jährige wirklich ärgert, ist, dass "junge Menschen, jetzt auch Arbeitslose, uns Älteren gegenüber in meinem Bezirk oft richtig hasserfüllt sind". Sie sei beschimpft, sogar angerempelt worden, "die geben uns die Schuld für die Maßnahmen, sehen gar nicht, dass auch junge Schäden von der Krankheit zurückbehalten können. Denen möchte ich ins Stammbuch schreiben: Keiner ist vor Corona, Arbeitslosigkeit noch Armut sicher."

Treffsicheres Hilfspaket

Martin Schenk, Sprecher der Armutskonferenz, berichtet von zusätzlichen finanziellen Belastungen vieler, die ohnehin wenig Geld haben. Im Vergleich zu Kantinen und Schulküchen ist Essen nun teurer. Geht ein Gerät kaputt, kann es oft nicht kostengünstig ersetzt werden. Auch Onlinekosten, Schreibwaren oder Fördermaterialien belasten jene mit Schulkindern.

Auch bei der Corona-Notnothilfe-Hotline 051776300 der Caritas melden sich Menschen, die sich bisher noch nie gemeldet hatten, "Arbeitslose, Alleinerziehende, Sexarbeiterinnen, kinderreiche Familien, auch Selbständige, die kein Einkommen, noch keine Wirtschaftshilfe, aber einen leeren Kühlschrank haben", sagt Schwertner. "Die Politik darf sich deshalb nicht der Diskussion über ein höheres Arbeitslosengeld verwehren."

Die Caritas unterstützt auch die Forderung der Armutskonferenz, die Ausgleichszulage von derzeit auf 917,35 Euro sechs Monate lang auf 1000 Euro erhöhen. Davon profitieren jene mit Mindestpensionen, Sozialhilfe- und Mindestsicherungsbezug, jene, deren Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe aufgestockt werden muss. "Damit aus der Gesundheits- keine Sozialkrise wird", sagt Schwertner. "Das stützt und schützt die unteren 20 Prozent und wäre treffsicher", sagt Schenk.

Dazu plädierte er für einen Härtefonds über 50 Millionen Euro für die "Überbrückung außergewöhnlicher Notstände", so wie das im Tiroler Mindestsicherungsgesetz vermerkt ist, in allen Bundesländern. Das Sozialministerium stellt nun mit dem dritten Covid-19-Gesetzespaket vom Familienlastenausgleichsfonds einmalig 30 Millionen Euro als Familienhärteausgleich zur Verfügung. Man arbeite bereits an der Richtlinie, damit das Geld "rasch und unbürokratisch den einkommensschwachen Familien mit Kindern zukommt". Für Obdachlose wurde das Winterpaket bis August verlängert, die Winternotquartiere bleiben offen.