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Die flexible Gesellschaft

Von Martin Tschiderer, Karl Ettinger und Petra Tempfer

Politik

Um in der Corona-Pandemie zu kleinen Dosen Alltag zu kommen, wird es Flexibilität brauchen. Wie lässt sich das öffentliche Leben staffeln?


Es ist eine Lockerung, auf die viele besonders sehnsüchtig warten: Ab Mitte Mai dürfen Lokale schrittweise wieder öffnen. Passieren wird das unter strengen Auflagen. Für Kellnerinnen und Kellner denkt die Regierung über eine Maskenpflicht nach, Gäste werden laut Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) dagegen keine Masken tragen müssen.

Seitens der Gastronomie kursieren auch Ideen, die erwartbare Maskenpflicht mit Plexiglasmasken umzusetzen, die für das Personal etwas mehr Luft bieten. Um die Mindestabstände zwischen den Gästen zu gewährleisten, ist mit größeren Abständen zwischen den Tischen und einer Beschränkung der Gesamtzahlen an Gästen zu rechnen. Zudem soll es laut Kurz eine Maximalanzahl von Personen geben, mit denen man den Abend im Restaurant an einem Tisch verbringen darf. Aus Regierungskreisen wurde der "Wiener Zeitung" jedenfalls bestätigt, dass Lokale länger als bis 18 Uhr öffnen dürfen.

Mit wie vielen Menschen man künftig ein Lokal besuchen darf, dazu gibt es noch keine Informationen - wie auch zahlreiche andere Details der Lockerungen in Gastronomie und Hotellerie noch offen sind. Es werde jedenfalls Abstufungen innerhalb des Sektors geben, heißt es aus dem Bundeskanzleramt zur "Wiener Zeitung". Es mache natürlich einen Unterschied, ob es um Restaurants oder Nachtlokale gehe. Während in Restaurants und Cafés die Tischabstände leicht erhöht werden können, kann das in kleineren Bars schon schwieriger sein. In Nachtlokalen, etwa mit Tanzfläche, ist die konsequente Einhaltung von Mindestabständen ohnehin kaum denkbar.

Alle zwei Wochen einen Schritt zu mehr Freiheit

Dabei zeigt das Fallbeispiel Gastronomie recht anschaulich, was die kleinen Schritte Richtung Alltag für uns alle prägen wird: Erstens, eine flexible Vorgangsweise - Kurz erläuterte erneut die Regierungs-Strategie, jeweils im Abstand von zwei Wochen einen weiteren Schritt der Lockerung zu vollziehen, um den Kurs gegebenenfalls korrigieren zu können. Und zweitens, eine Art "Staffelung der Gesellschaft". Um den Kontakt zwischen Menschen und damit die Ansteckungsmöglichkeiten zu minimieren, wird es nötig sein, zeitliche und räumliche Überschneidungen größerer Menschengruppen möglichst zu reduzieren. Fahren Menschen etwa zu unterschiedlichen Zeiten mit der U-Bahn in die Arbeit, wird Abstand zu halten leichter sein als gesammelt in der Rush Hour.

So könnte auch im Schulbetrieb darüber nachgedacht werden, ob der Unterricht in den einzelnen Bildungseinrichtungen zu versetzten Zeiten beginnt. Klar ist bislang nur, dass für gut 40.000 Maturanten ab 4. Mai die Rückkehr zum Unterricht in den Klassen erfolgt - und die weitere Öffnung der Schulen etappenweise vollzogen wird. Zu erwarten ist, dass zunächst wohl ab Mitte Mai Volksschüler der vierten Klassen vom Heimunterricht zurück in die Klassen wechseln, weil bei diesen die Entscheidungen über den künftigen Ausbildungsweg anstehen. Ähnliches gilt für Schüler in den vierten Klassen der Mittelstufen und der AHS-Unterstufen. Erst später werden andere Schulklassen folgen - das könnte bis Juni dauern. In den Schulen selbst ist man vor Herausforderungen im Alltag gestellt, die weder von der Regierungsspitze noch im Ministerium und in den Bildungsdirektionen wahr- oder ernstgenommen werden. Für das vorgeschriebene Händewaschen fehlt etwa in vielen Klassen zumindest Warmwasser, auch in den Toiletten steht häufig nur Kaltwasser zur Verfügung.

"Ein Verbot allein reicht nicht"

Bei aller nötigen Flexibilität: Das Gefühl, dass Maßnahmen und Auflagen der Regierung einigermaßen praktikabel sind und zeitliche Perspektiven bieten, wird auch für die Bereitschaft der Bevölkerung entscheidend sein, sich längerfristig daran zu halten. Sinkt die Anzahl der Infizierten und Todesopfer weiterhin, stehe diese Bereitschaft an der Kippe, sagt die Soziologin Martina Beham-Rabanser von der Johannes Kepler Universität Linz zur "Wiener Zeitung": "Wir sind es - im Gegensatz etwa zu Diktaturen wie China - gewohnt, eigene Entscheidungen zu treffen und lassen uns nicht von oben etwas diktieren. Es sei denn, es ist gut argumentiert." Beim Ausbruch der Pandemie im März sei es die große Unsicherheit gewesen, die Angst vor der Erkrankung selbst, die den Widerstand gegen Ausgangsbeschränkungen und Veranstaltungsverbote geringgehalten hatte. "Und auch das Gefühl, füreinander Verantwortung zu haben, was einen hohen Wert in der Gesellschaft hat", sagt Beham-Rabanser. "Nur ein Verbot allein würde nicht reichen."

Diese Anpassungsfähigkeit habe eine Toleranzgrenze, und die sei nun bald erreicht. Daher könnte die Motivation, etwa Masken zu tragen, zu bröckeln beginnen. Brüche gegen Verordnungen könnten sich mehren. Es sei denn, es stellt sich heraus, dass das neuartige Coronavirus auch bei mildem Krankheitsverlauf Dauerschäden zur Folge hat. Dann würde die Einhaltung der Maßnahmen wieder breiter akzeptiert, sagt Beham-Rabanser. "Weil es dann um die langfristige, eigene Gesundheit geht."