Mediziner zweifeln stark an Risikopatienten-Liste
In einer Bewertung der Med-Uni Wien wird die Festlegung besonders gefährdeter Menschen mittels Medikamentenabrechnung für Unter-65-Jährige in Frage gestellt.
An die 90.000 Risikopatienten im Erwerbsalter unter 65 Jahren hat Gesundheitsminister Rudi Anschober (Grüne) von einem Expertenteam als besonders gefährdet durch den Coronavirus identifizieren lassen. Ein entsprechendes Gesetz, das ermöglicht, dass Berufstätige im schlimmsten Fall während der Corona-Krise freigestellt werden, wird am heutigen Mittwoch im Zuge der Sitzung des Nationalrats eingebracht und soll am 4. Mai in Kraft treten. Die Sozialpartner tragen die Lösung mit. Allerdings zeigt eine der "Wiener Zeitung" vorliegende Stellungnahme von Experten der Wiener Medizin-Universität, dass äußerst fraglich ist, ob mit der gewählten Methode auf Basis der Medikamentenabrechnung der Sozialversicherung tatsächlich die "richtigen" Risikopatienten herausgefunden werden können.
Die Einwände dagegen kommen vom Zentrum für Physiologie und Pharmakologie der Medizin-Uni Wien. In der Zusammenfassung der Ergebnisse kommt das dortige Uni-Expertenteam zu folgendem Schluss: In der Gruppe der Unter-65-Jährigen "versagt" der Algorithmus, der auf ATC-Codes, Krebsdiagnose und Polypharmazie beruht, wie es in dem Papier ausdrücklich heißt. Denn auf Basis dieser Methode würden lediglich 27,3 Prozent der Betroffenen, also der Risikopatienten, tatsächlich als solche "vorhergesagt", haben die Vertreter der Med Uni-Wien bei der gut dreieinhalb Wochen dauernden Suche der Fachleute nach der Liste für Risikopatienten als Einwand angemeldet. Das bedeutet im Klartext: Nur gut ein Viertel der tatsächlichen Risikopatienten im Erwerbsalter unter 65 wird mit der inzwischen von Gesundheitsminister, den Sozialpartnern, der Sozialversicherung und der Ärztekammer am Dienstag präsentierten Liste tatsächlich herausgefiltert. Dennoch wurde nunmehr dieses Verfahren gewählt.
1,67 Millionen Über-65-Jährige in Risikogruppe
Die Liste mit den rund 90.000 Risikopatienten im Erwerbsalter ist Grundlage dafür, dass diese in den kommenden Tagen von den Krankenkassen zunächst mit einem Schreiben informiert werden, wonach sie der Gruppe der vom Coronavirus gesundheitlich besonders gefährdeten Gruppe angehören. Ab 4. Mai sollen diese dann ihren Hausarzt aufsuchen, sich ein Attest erstellen lassen und damit zu ihrem Arbeitgeber gehen. Im Zuge einer einvernehmlichen Lösung zwischen dem Dienstgeber und dem betroffenen Risikopatienten sollen danach entweder verstärkte Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz des betroffenen Beschäftigten etwa durch eine räumliche Trennung, durch Homeoffice oder - wenn diese beiden Varianten nicht umsetzbar sind - durch eine Freistellung vom Beruf während der Zeit der Corona-Krise festgelegt werden. Für die Freistellung der rund 90.000 Risikopatienten übernimmt dann der Bund gemäß der gesetzlichen Regelung die Kosten.
In der Stellungnahme der Experten der Med Uni Wien wird unter anderem darauf hingewiesen, dass das Alter die beste Vorhersage für die Einstufung als Risikopatient zulasse. Immerhin 88,6 Prozent jener Personen, die eine intensivmedizinische Behandlung brauchen und/oder Verstorbene sind, seien 65 Jahre oder älter, wird in dem Papier festgehalten. Das seien immerhin 1,67 Millionen Krankenversicherte in Österreich. Allerdings geht es bei der Personengruppe nicht um die Frage, welche Konsequenzen im Berufsleben ihre besondere gesundheitliche Gefährdung hat, weil diese im Regelfall allein aufgrund ihres Alters nicht mehr berufstätig sind.
Gewerkschaftern fehlt Schutz für Schwangere
Trotz der nunmehr erzielten Einigung über die Liste der 90.000 Risikopatienten auch mit den Arbeitgeber- und Arbeiternehmerorganisationen, also Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer und Gewerkschaftsbund, ist die Debatte darüber nicht beendet. Arbeiterkammerpräsidentin Renate Anderl hat bereits darauf hingewiesen, dass auch noch weitere Menschen, die eine besondere Gesundheitsgefährdung belegen können, dazukommen könnten. Darüber hinaus hat der ÖGB bereits unmittelbar nach der Präsentation der Liste hervorgestrichen, dass den Gewerkschaftern eine Gruppe fehlt. Das sind schwangere Frau, die berufstätig sind. Es sei eine "fahrlässige Entscheidung" der Bundesregierung, Schwangere nicht als Risikogruppe zu schützen, warnte die Dienstleistungsgewerkschaft Vida in einer Aussendung.
Neos-Gesundheitssprecher Gerald Loacker kritisierte das "wochenlange Theater" um die Liste der Risikopatienten. Denn nicht jeder Risikopatient erhalte nun tatsächlich einen Brief. Der Neos-Mandatar spielt damit unter anderem auf die Expertise der Medizin-Uni Wien an. Gesundheitsminister Anschober schaffe damit mehr Verwirrung als Klarheit, meinte Loacker in einer Aussendung.
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