28 Experten setzten sich gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch mit den Maßnahmen im türkis-grünen Regierungsprogramm im Vergleich zum ÖVP-FPÖ-Koalitionspapier auseinander. Konkret ging es um die integrative oder desintegrative Wirkung des Geplanten, "also ob Menschen mit Migrationshintergrund damit Chancen, Perspektiven, Teilhabe ermöglicht wird – oder eben nicht", erklärt Alexander Pollak, Sprecher von SOS Mitmensch.
Das Ergebnis: Mehr als die Hälfte der politischen Ankündigungen werden als "desintegrativ" beurteilt, weniger als ein Drittel als "integrativ". Während drei Viertel der Maßnahmen, die für die Integration förderlich sind, unkonkret auch ohne Umsetzungs- und Finanzplan etwa, formuliert sind, sind die Punkte, die als hinderlich für Migranten eingestuft werden, durchaus konkret – außerdem stellten einige der Studienautoren Lücken im Regierungsprogramm von ÖVP und Grünen fest.
Lücken beim Staatsbürgerschaftsrecht
Auf eine solche "gravierende Lücke" macht Soziologe, Politologe und Migrationsforscher Rainer Bauböck aufmerksam, und zwar beim Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft und zum Wahlrecht. Da hatte die ÖVP-FPÖ-Regierung noch die Einführung einer Doppelstaatsbürgerschaft geplant gehabt, "das gibt es im jetzigen Regierungsprogramm nicht mehr."
Dabei habe die Einbürgerung von Migranten in mehrfacher Hinsicht positive Effekte, für die soziale Integration der Personen selbst etwa: Wissenschaftlich kontrollierte Experimente zeigten, dass das Erlangen der Staatsbürgerschaft auch die Chancen der Eingebürgerten am Wohnungs- und Arbeitsmarkt verbessern. Die Einbürgerung sei auch ein "Katalysator für weitere Integration". Sofern diese nach vier bis fünf Jahren erfolge, nehme man bereits Erarbeitetes optimal mit, es erfolge ein neuer Schub, etwa bei den Sprachkenntnissen.
Die Einbürgerung von Migranten habe aber auch positive Effekte für die Legitimation des demokratischen Systems. Im Moment lebten beispielsweise im 15. Wiener Gemeindebezirk 55 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund, zugleich hätten 42 Prozent der Wohnbevölkerung keine österreichische Staatsbürgerschaft, deshalb kein Wahlrecht. "Das ist ein Teufelskreis, die Parteien interessieren sich nicht für die Interessen dieser Menschen, ändern auch nichts am lokalen Wahlrecht, und diese fühlen sich nicht vertreten." Hürden für mehr demokratische Beteiligung sind etwa ein lückenlos nachzuweisender durchgängiger Aufenthalt, die Zehnjahresfrist bis die Staatsbürgerschaft beantragt werden könne und das Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft. "Das ist insbesondere für EU-Bürger eine extrem hohe Hürde", sagt Bauböck.
Rassismus am Arbeitsmarkt
Gerade am Arbeitsmarkt sieht Judith Kohlenberger, Kulturwissenschafterin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien in Österreich eine durch Studien belegte Diskriminierung von Migranten. So zeige etwa eine der Johannes Kepler Universität Linz, dass Menschen ohne Migrationshintergrund bei Bewerbungen mit identischem Lebenslauf im Vergleich zu solchen aus der Türkei von österreichischen Unternehmen eineinhalb Mal so häufig ein Bewerbungsgespräch angeboten wird; im Vergleich zu Menschen aus Nigeria sogar doppelt so häufig. "Der einzige Unterschied waren Name und Foto, da zeigt sich, dass es auch in Österreich strukturellen Rassismus gibt, nicht nur in den USA."
Solche Versäumnisse aus der Vergangenheit seien aufzuholen. Einen Ansatz dazu sieht die Kulturwissenschafterin im Nationalen Aktionsplan, der Antidiskriminierungsarbeit sowie der geplanten Diversität im Gesundheitswesen und der Polizei, "sofern solche Maßnahmen umgesetzt werden."
Positiv sei laut Erziehungswissenschafterin Inci Dirim auch der im Regierungsprogramm angekündigte Ausbau von Deutsch als Zweitsprache in der Ausbildung von Lehrkräften, weil man die "Mehrsprachigkeit von Migrantinnen und Migranten viel mehr als berufliche Kompetenz sehen und fördern müsse". Wobei sie noch offene Baustellen beim Überführen der in der Familie gesprochenen Sprache in eine berufliche Qualifikation sieht. Außerdem weist Dirim wie Kohlenberger auf die notwendige Finanzierung solcher Projekte hin - die fehle noch. Und manche Bemühung werden zudem an anderer Stelle konterkariert. Die türkis-grüne Regierung setzt etwa "trotz inzwischen ausgefeilter integrativer Sprachförderprogramme auf segregative Sprachlernangebote, die zurecht stark kritisiert werden".
Maßnahmen, die desintegrativ wirken, nehmen weiterhin eine zentrale Stellung in der Politik ein. Integrative Ansätze sind unter Türkis-Grün zwar vorhanden, führen aber vorerst ein Schattendasein, resümiert SOS-Mitmensch-Sprecher Pollak: "Der unter Türkis-Blau gestartete Zug in Richtung Desintegrationspolitik ist zwar eingebremst, wurde aber nicht gewendet."