"Am Montag hab’ ich ihn das letzte Mal gehört. Der Dienstag war ungewöhnlich sorglos. Am Mittwoch in der Früh habe ich gesehen, dass er seit mehr als 24 Stunden offline war. Da habe ich es gewusst. Ich hab’ das Handy angeschaut und mir gedacht, er kommt nicht mehr online. Jetzt muss ich nur noch warten." Das war vor fast genau zwei Jahren. Nina S.s Sohn Leon war damals 29 Jahre alt, als er Suizid beging. "Die Ärztin, die ihn einen Tag, nachdem sie ihn gefunden haben, identifiziert hat, war dieselbe, die ihn zwei Wochen davor behandelt hatte", sagt S. Sie hatte die tiefen Schnittwunden genäht, die er sich zugefügt hatte.

Es war nicht der erste Suizidversuch. Leons Geschichte sei eine lange gewesen, sagt S. Beginnend mit der Pubertät habe ihr ältester Sohn, der in der Schule durch seine Hochbegabung, aber auch durch seine Sensibilität aufgefallen war, "schwierige und weniger schwierige Phasen durchlebt". Eine abgebrochene Ausbildung, Alkohol, Haschisch, ein Heroinentzug. Zuletzt sei es bergab gegangen, so S. "Er konnte von dem Suchtverhalten, bei psychischen Krisen Substanzen konsumieren zu müssen, nicht mehr wegkommen."

Leon sei psychisch krank gewesen. Eine massive Borderline-Störung, begleitet von Depressionen und Angstzuständen, dominierte sein Leben. Trotz Psychotherapie und stationären Krankenhausaufenthalten hätte es keine Heilung mehr gegeben, sagt S. heute - allerdings nicht ohne den Vorwurf, dass ihr Sohn die Art und Weise, wie man ihm selbst in den Ambulanzen als psychisch Krankem begegnet sei, als verletzend wahrgenommen habe. "Es gab in all den Jahren nie auch nur einen einzigen Arzt, der sich länger mit ihm beschäftigt hat als unbedingt nötig", so S. "Ein Teil von ihm wollte aber weiterleben und hier bleiben. Ein anderer Teil wollte verschwinden von dieser Welt."

Die Frage nach dem Warum

In den Gruppen der Kontaktstelle Trauer der Caritas Wien für Angehörige nach Suizid, an die sich S. "nach einem wochenlangen Schockzustand, weil es so unaushaltbar, so unaussprechlich war", gewandt hat, steht laut Leiterin Kathrin Unterhofer vor allem eines im Vordergrund: Die Frage, warum man es nicht verhindern konnte. Hätte man Anzeichen besser deuten sollen? Auf diese anders reagieren sollen? Hat die Liebe nicht gereicht?

"Trotz aller intensiver Bemühungen und Präventionsmaßnahmen können die Angehörigen einen Suizid nicht immer verhindern", sagt Unterhofer. Wird er verhindert, sieht Johannes Wancata, Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie an der MedUni Wien, darin aber sogar eine Chance. "Jede Krise, so bedrohlich sie auch sein mag, kann auch eine Chance sein, dass man auf neue Wege kommt", sagt er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Ein Suizidversuch sei ein Hilferuf. Freilich gebe es zahlreiche Fälle, in denen suizidgefährdete Menschen in eine Abwärtsspirale geraten und es nicht bei einem Suizidversuch bleibt. Finden sie einen Weg aus der Krise, seien sie seiner Erfahrung nach aber unendlich froh, "dass sie es nicht gemacht haben".

Darum sei Suizidprävention immer wichtig. Dafür brauche es nicht unbedingt einen Psychotherapeuten, sagt Wancata. Oft reichten Gespräche mit Kollegen, Familienangehörigen oder Freunden. Es gehe darum, zuzuhören, hinzuhören - und nachzufragen. Viele machten Andeutungen, manche klarer, manche weniger klar. "Dann sollte man nachfragen: ,Geht’s dir nicht gut? Was ist los mit dir?‘", sagt Wancata. Damit könne man vielleicht den Tunnelblick durchbrechen, den eingeengten Fokus, der die Auswegsmöglichkeiten aus dem Suizid zunehmend ausblendet, wieder erweitern. Tatsache sei: "Je kleiner das soziale Netz, desto größer ist das Risiko, dass etwas passiert."

Die Ursachen für einen Suizid seien mannigfach. Der Verlust der Arbeit, das Zerbrechen der Beziehung, eine psychische oder körperliche Erkrankung - "im Prinzip kann jeder in eine Situation kommen, die eine Krise darstellt, und aus der es keinen Ausweg zu geben scheint", sagt Wancata. Aber auch das voranschreitende Alter, verbunden mit der Angst vor Schmerzen oder dem Gefühl, für die Gesellschaft nichts mehr wert zu sein, könnten zu Suizidgedanken führen. Dem aktuellen Suizidbericht 2019 des Gesundheitsministeriums zufolge ist das Suizidrisiko in der Altersgruppe der 75- bis 79-Jährigen fast zweieinhalbmal, in der Altersgruppe der 85- bis 89-Jährigen fast fünfmal so hoch wie das der Durchschnittsbevölkerung.

Die Suizidrate nimmt ab

Den Suizidberichten der vergangenen Jahre zufolge nimmt die Suizidrate in Österreich seit den 1980er Jahren grundsätzlich ab. In dieser Zeit wurden Präventionsmaßnahmen wie niederschwellige Krisenanlaufstellen, strengere Waffengesetze oder die Sicherung von Hotspot-Brücken gesetzt. Waren es 1986 noch etwa 2.300 Fälle pro Jahr, so ist die Anzahl bis 2018 auf rund 1.200 gesunken, was einer Suizidrate von 14,4 pro 100.000 Einwohner entspricht. Noch immer sind das aber fast dreimal so viele Tote wie im Straßenverkehr. Statista zufolge befindet sich Österreich im EU-Vergleich damit im oberen Drittel: Die durchschnittliche Suizidrate der EU liegt bei 11. (Zum Vergleich: in Litauen bei rund 30, in Griechenland bei rund 5).


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Mehr als drei Viertel der Suizidtoten sind Männer. Die anteilsmäßig meisten Suizide werden im mittleren Lebensalter begangen (Altersgruppe 45 bis 59 Jahre: rund 28 Prozent). Die bevölkerungsbezogene Suizidrate steigt jedoch - korrelierend mit dem Risiko - mit dem Alter an. Dazu, wie oft es zu Suizidversuchen kommt, liegen laut Suizidbericht keine verlässlichen Zahlen vor, weil sie oft nicht als solche erkannt werden, wie es heißt. Internationale Studien gehen jedoch davon aus, dass die Anzahl der Versuche jene der tatsächlich durch Suizid verstorbenen Personen um das 10- bis 30-Fache übersteigt.

Debatte um aktive Sterbehilfe

Während des Lockdowns der Corona-Krise Anfang des Jahres habe es zwar weniger Suizide gegeben als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, sagt Wancata, "möglicherweise, weil manchen die Mittel zum Suizid gefehlt haben". Jobverlust oder Firmenkonkurse könnten das Suizidrisiko nun aber wieder steigern. Ein relativ häufig verwendetes "Mittel zum Suizid" ist laut Wancata ein Medikamentenmix.

Dass diese Art der Suizide in der Debatte um aktive Sterbehilfe als "schlecht" angesehen wird und es im Fall einer Legalisierung dann auch akzeptierte, "gute" Suizide gibt, hält die Wiener Ethikerin Susanne Kummer für fragwürdig. "Als ,guter‘ Suizid gilt ein quasi ,selbstbestimmter‘, wenn jemand eine Kooperation zum Suizid oder aktive Sterbehilfe verlangt. Wenn man beginnt, hier mit zweierlei Maß zu messen, wird jegliche Art der Suizidprävention schwierig", sagt Kummer zur "Wiener Zeitung". Menschen mit Suizidwünschen steckten in einer Sackgasse tiefer Isolation und Hoffnungslosigkeit, oft lägen dahinter psychische Erkrankungen - der Grad der Selbstbestimmung sei dadurch fraglich.

Erst im Februar dieses Jahres hat das deutsche Bundesverfassungsgericht das Verbot einer "geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" aufgehoben. In Österreich berät der Verfassungsgerichtshof (VfGH) ab 21. September über das aktuell gültige Verbot der aktiven Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) sowie der Mitwirkung am Suizid. Vier Antragsteller, darunter zwei Schwerkranke, halten das Verbot, das mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu bestrafen ist, für verfassungswidrig und haben die Aufhebung dieser beiden Bestimmungen verlangt. Die Antragsteller argumentieren, dass durch die geltende Rechtslage leidende Menschen gezwungen werden, entweder entwürdigende Verhältnisse zu erdulden oder - unter Strafandrohung für Helfer - Sterbehilfe im Ausland in Anspruch zu nehmen. Eine öffentliche, mündliche Verhandlung am VfGH ist für 24. September anberaumt.

"Brücke der Solidarität schlagen"

Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen sind nur in wenigen Ländern erlaubt, konkret in der Schweiz, den Niederlanden, Luxemburg, Belgien, Kanada, einigen Bundesstaaten der USA und Australiens, Kolumbien und seit kurzem auch geschäftsmäßig in Deutschland. Studien hätten gezeigt, dass die Suizidraten insgesamt in jenen Ländern steigen, in denen Kooperationen bei Suizidwünschen legalisiert wurden, sagt Kummer. "Das Angebot steigert die Nachfrage."

Dabei gehe es vielmehr darum, "eine Brücke der Solidarität zu schlagen", so Kummer. Man müsse den Menschen, die suizidgefährdet sind, in jedem Fall zeigen, dass sie einen wichtigen Platz im Leben haben. "Sie sagen nicht: ,Hilf mir, ich will getötet werden.‘ Sie sagen: ,Hilf mir, ich will leben.‘"