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Offenes Lernen in Zeiten von Corona

Von Christoph E. Mandl

Politik

Was die Reaktionszeit bei den Maßnahmen mit der zweiten Welle zu tun hat und warum wir auf die Sprache achten sollten.


Jedes Virus ist einzigartig. Epidemien hingegen ähneln einander. Zunächst verbreitet sich das Virus exponentiell, die Zahl der Neuinfizierten verdoppelt sich also im jeweils selben Zeitraum. Die Anzahl Hospitalisierter sowie Verstorbener wächst in Folge ebenfalls exponentiell, bis durch Maßnahmen, Durchseuchung oder Impfungen die Zahl der Neuinfizierten langsamer wächst und schließlich schrumpft. Wenn dann Maßnahmen zurückgenommen werden und die Durchseuchung nicht ausreichend groß ist, kann der Ablauf von Neuem beginnen - die zweite Welle.

Die Parabel von der
unbekannten Dusche oder
die Logik des Misslingens

Das Phänomen der zweiten Welle kennen fast alle, die in einer fremden Dusche eine genehme Wassertemperatur einstellen wollen. Sie drehen auf, und das Wasser ist zu kalt. Also stellen sie den Hahn auf warm. Die Wassertemperatur ändert sich indes nicht sofort. Daher stellen sie auf heiß. Plötzlich - aber mit zeitlicher Verzögerung - ist das Wasser zu heiß. Sie flüchten aus der Dusche, nachdem sie den Hahn auf kälter gestellt haben. Aber nun wird das Wasser wiederum zu kalt. Es braucht eine Weile, bis die Wassertemperatur stimmt. Dies nennt man Oszillation. Die Phase der Oszillation dauert desto länger, je größer die Zeitverzögerung zwischen der Veränderung der Temperatureinstellung und der entsprechenden Temperaturänderung des Wassers ist.

Was für Duschen gilt, ist allgemeingültig: In einem System, in dem zwischen der Änderung einer Steuerungsgröße und deren merkbarer Auswirkung Zeit vergeht, ist es nicht möglich, einen erwünschten Zustand ohne Einschwingvorgang zu erreichen. Zwei Aspekte sind dabei maßgebend: wie rasch reagiert wird und wie stark reagiert wird. Bei Covid-19 haben Regierungen unterschiedlich rasch und unterschiedlich stark auf das exponentielle Wachstum der Anzahl Erkrankter reagiert - mit unterschiedlichen Konsequenzen.

Um länderspezifische Maßnahmen miteinander zu vergleichen, hat die University of Oxford für Covid-19 den Government Response Stringency Index entwickelt. Dies ist ein Index, der auf neun Maßnahmen-Indikatoren basiert, darunter Schulschließungen, Arbeitsplatzschließungen und Reiseverbote, die auf einen Wert von 0 bis 100 (100 = am strengsten) skaliert wurden. Wenn die Maßnahmen innerhalb eines Landes nicht einheitlich sind, wird der Index der strengsten Region ausgewiesen. Dieser Index erfasst also Anzahl und Strenge der Maßnahmen.

Interessant ist ein Vergleich der beiden Nachbarn Österreich und Schweiz mit Japan (siehe Grafik). Die japanische Regierung hat weniger Maßnahmen und in kleineren Sprüngen gesetzt als die Regierungen Österreichs und der Schweiz, dafür hat sie früher reagiert. Zu Beginn der Maßnahmen war die Epidemie in Japan nicht so weit fortgeschritten - gemessen an der Zahl der bereits Verstorbenen - wie in Österreich und der Schweiz.

Wie in der Dusche gilt auch bei Corona: Je früher Maßnahmen gesetzt werden, desto wirksamer sind sie. Spät gesetzte Maßnahmen wirken wenig, selbst wenn sie besonders restriktiv sind. Österreich hat zwar früher als die Schweiz reagiert und daher weniger Tote (pro 1 Million Einwohner) zu beklagen, aber verglichen mit Japan schneidet Österreich schlechter ab.

Überreaktion, also mehr und strengere Maßnahmen als notwendig, sind typisch, wenn Wirkungen und Nebenwirkungen von Maßnahmen erst zeitverzögert merkbar sind. Dietrich Dörner beschreibt dies in seinem Buch "Die Logik des Misslingens" im Kontext komplexer Situationen. Eine Verdopplung alle zwei bis drei Tage der Anzahl Verstorbener zu Pandemiebeginn bei einer Inkubationszeit von durchschnittlich fünf bis sechs Tagen führte zunächst zur Unterschätzung der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Sars-CoV-2-Virus. In Folge kam es zur verspäteten Überreaktion. Wenn Maßnahmen dann zurückgenommen werden, kommt es wie bei der Dusche zur zweiten Welle. Sogar Japan, das sehr früh und mäßig reagierte, erlebte eine zweite Welle an diagnostizierten Infizierten. Der Government Response Stringency Index Japans, der von 47 auf 24 Prozent gesunken war, ist wiederum auf mehr als 30 Prozent angestiegen. Dieser Anstieg hat indes ausgereicht, um die zweite Welle zum Abklingen zu bringen.

Die Parabel von der Dunkelziffer oder die Irreführung durch Statistiken

In der Kriminologie bezeichnet der Begriff "Dunkelziffer" die Differenz zwischen registrierten und tatsächlichen Straftaten. Diese Differenz ist nicht konstant. Aus einem Anstieg registrierter Straftaten kann nicht geschlossen werden, dass Straftaten tatsächlich häufiger werden. Schätzungen ergeben, dass weniger als die Hälfte tatsächlicher Straftaten registriert wird. Delikte mit hohen Schäden werden grundsätzlich eher angezeigt als solche, die lediglich einen geringen Schaden verursachen. Nicht alle Delikte werden überhaupt von den Geschädigten bemerkt. Solche mit geringen Schäden nehmen Betroffene oft gar nicht als Straftat, sondern als Lappalie wahr. Der Begriff "Dunkelziffer" wird in der deutschen Sprache auch im Gesundheitswesen verwendet; er bezeichnet die Differenz zwischen diagnostizierten und tatsächlichen Krankheitsfällen. Diese Verwendung im Gesundheitswesen verleitet dazu, unbemerkte Infizierte mit unbemerkten Straftätern gleichzusetzen. Von "Schuldigen", von "Verdächtigen" und sogar von "Delikt" wird gesprochen. Auch der Begriff "Fall" hat eine doppelte Bedeutung: Er ist Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung, bezeichnet aber auch das Auftreten einer Krankheit.

War man zu Beginn von Covid-19 noch der Auffassung, dass die Zahl unbemerkter Infizierter klein sei, so hat sich das Bild seitdem gründlich gewandelt. Die Heinsberg-Studie der Universität Bonn ermittelte, dass von je 278 diagnostizierten Infizierten im Durchschnitt eine Person verstarb. Die Ischgl-Studie der Medizinischen Universität Innsbruck wiederum kam zu dem Ergebnis, dass von je 312 diagnostizierten Infizierten im Durchschnitt eine Person verstarb. Daraus lässt sich die Zahl unbemerkter Infizierter in etwa hochrechnen. Wenn zum Beispiel 10 Menschen an Covid-19 sterben, müssen gemäß der Heinsberg-Studie 10 mal 278 = 2.780 Personen davor infiziert gewesen sein. Dies führt zu einer enorm hohen Zahl unbemerkter Infizierter.

Im Verlauf einer Pandemie variiert diese Zahl - wie stark, bleibt unbekannt. Eine Zunahme diagnostizierter Infizierter bedeutet nicht, dass die tatsächlich Infizierten häufiger werden. Aus einer erneuten Zunahme diagnostizierter Infizierter kann deshalb auch nicht geschlossen werden, dass die Anzahl Hospitalisierter erneut zunehmen wird.

Sars-CoV-2 breitete sich im ersten Quartal 2020 mit derart rasender und exponentiell wachsender Geschwindigkeit aus, dass die Tests damit nicht Schritt halten konnten und viele Infizierte unbemerkt blieben. Auch haben viele Infizierter wenig bis gar keine Krankheitssymptome. Dies ist aus Sicht von Sars-CoV-2 hervorragend, denn ein Virus "will" nur eines: sich vermehren. Je weniger der Wirt (wir Menschen) das Virus bemerkt, desto ungehinderter kann es sich verbreiten.

Für viele Menschen führt die hohe Zahl unbemerkter Infizierter indes zu einer angstmachenden Fehlinterpretation. Je größer die Zahl unbemerkter Infizierter, desto gefährlicher erscheint das Virus, doch umso ungefährlicher ist es in Wirklichkeit. Offizielle Statistiken weisen ja nur die Zahlen von diagnostizierten Infizierten sowie von Verstorbenen aus. Die Sterberate bezogen auf die diagnostizierten Infizierten ist indes um ein Vielfaches größer als die Sterberate bezogen auf die tatsächlich Infizierten. In Österreich etwa ist die Sterberate bezogen auf die diagnostizierten Infizierten mehr als siebenmal höher als die Sterberate bezogen auf die tatsächlich Infizierten.

Mutter Natur hat uns ein Virus mit Tarnkappe geschickt, das von mehr als 80 bis 90 Prozent der Infizierten kaum bemerkt wird. Contact-Tracing sowie das Erkennen von Clustern sind somit schwierig bis unmöglich. Selbst die scheinbar evidenzbasierte Aussage, dass überproportional viele Infizierte aus dem Ausland kommen, stimmt so nicht. Je mehr Personen getestet werden, desto mehr Infizierte findet man. Wird daher ein Großteil der Einreisenden getestet, aber nur ein kleiner Teil der Einwohner, dann werden auch relativ mehr infizierte Einreisende gefunden als infizierte Einwohner. Aus demselben Grund ist es statistisch inkorrekt, die Anzahl diagnostizierter Infizierter zum jetzigen Zeitpunkt mit der Anzahl diagnostizierter Infizierter zu Pandemiebeginn zu vergleichen und daraus Schlüsse über den Verlauf der Pandemie zu ziehen.

Die Parabel von der Flugangst oder der Umgang mit der
Ungewissheit

Am 11. September 2001 entführten Terroristen vier Verkehrsflugzeuge, lenkten zwei davon in die Türme des World Trade Centers und eines in das Pentagon. Das vierte Flugzeug brachte der Pilot der Entführer zum Absturz. In den vier Flugzeugen befanden sich insgesamt 263 Personen, die alle bei diesen Selbstmordattentaten ums Leben kamen. In Folge veränderten viele Amerikaner ihr Reiseverhalten und nutzten Autos anstatt Flugzeuge. Der Flugverkehr brach um bis zu 20 Prozent ein, der Straßenverkehr stieg um bis zu 5,2 Prozent an. In seinem Buch "Risiko" legt Gerd Gigerenzer dar, dass es in den ersten zwölf Monaten nach 9/11 um 1.600 mehr Verkehrstote gab, als statistisch zu erwarten waren.

"Schockrisiken" nennt man solche Ereignisse. Diese treten zwar sehr selten ein, aber wenn, dann verursachen sie meist enormen Schaden und viele Tote. Auf derartige Schockrisiken reagieren Menschen mit Angst, manche auch mit Panik. Wenn hingegen genauso viele oder mehr Menschen über einen längeren Zeitraum verteilt sterben, beispielsweise bei Verkehrsunfällen oder als Folge von Zigarettengenuss, bleiben wir gelassen. Wir fürchten einfach die seltene todbringende Katastrophe mehr als die stetig steigende Sterblichkeit durch Überernährung, Bewegungsmangel oder Luftverschmutzung. Schockrisiken führen zu intensiven Reaktionen. Vor 9/11 waren Leibesvisitationen ohne triftigen Grund Menschenrechtsverletzungen; heute ist dies normal.

Covid-19 reiht sich perfekt in die Liste der Schockrisiken ein. Innerhalb kurzer Zeit und in einer kleinen Region sterben viele Menschen an derselben Erkrankung. Die Bilder in den Medien von Spitälern und Särgen in Bergamo im März 2020 und die Diagramme der sich fast täglich verdoppelnden Anzahl Verstorbener bleiben in unserem Gedächtnis - genauso wie die Bilder der Flugzeuge, wie sie in die Türme des World Trade Centers krachen. Und doch sterben täglich weitaus mehr Menschen an anderen Ursachen als an Covid-19. Die Angst, an Covid-19 zu sterben, führt zu Social-Distancing-Maßnahmen und zu Verhaltensweisen, deren Risiken und Nebenwirkungen kaum wahrgenommen werden.

Einschätzung von Risiko und daraus folgende Entscheidungen, also "Risikointelligenz", wird in unserem Bildungssystem wenig gelehrt. An Schulen wird Wissen, also Gewissheit vermittelt, nicht aber der Umgang mit Ungewissheit. Viele Experten haben Mühe, der Öffentlichkeit Risiken klarzumachen, und vermitteln lieber scheinbare Gewissheiten. Auch mag mitunter Interesse daran bestehen, Menschen Angst einzujagen - sei es, um mediale Aufmerksamkeit zu bekommen, um eigene Führungsqualitäten herauszustreichen oder gar um die Abschaffung von Menschenrechten durchzusetzen.

Und die Moral von
der Geschicht’

Die Asiatische Grippe war die zweitschlimmste Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts. Bei einer Weltbevölkerung von 2,9 Milliarden Menschen fielen ihr in den Jahren 1957 und 1958 weltweit 1 bis 2 Millionen Menschen zum Opfer. Dies hat die Menschen damals offenbar nicht davon abgehalten, wie gewohnt weiterzuleben, denn das österreichische BIP als Maß aller bezahlten Leistungen (Dienstleistungen und Güter) wuchs in den Jahren 1956 bis 1958 real um 6,2 Prozent, 5,8 Prozent und 3,7 Prozent.

Die Hongkong-Grippe war die letzte große Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts. Bei einer Weltbevölkerung von 3,5 Milliarden starben weltweit zwischen 1968 und 1970 rund eine Million Menschen. Davon unberührt wuchs auch in den Jahren 1967 bis 1970 das österreichische BIP real um 3,0 Prozent, 4,4 Prozent, 6,2 Prozent und 7,1 Prozent. Seit Anfang der 1980er Jahre sind 35 Millionen Menschen an Aids gestorben.

Bei einer Weltbevölkerung von 7,8 Milliarden Menschen sind bisher rund 0,9 Millionen Menschen an Covid-19 gestorben. Diesmal reagieren Regierungen und Bevölkerung anders. 2020 wird das österreichische BIP voraussichtlich um 7,3 Prozent schrumpfen. Ob diese Erfahrung zu einem Umdenken bezüglich Grenzen des Wachstums führen wird?

Pandemien wie die meisten Katastrophen kommen nicht nur rasch, sondern verschwinden auch wieder rasch - zu nicht vorhersehbaren Zeitpunkten. Sie sind untrennbar mit unserer Zivilisation verbunden, wie der amerikanische Politologe James Scott darlegte: "Übertragbare Krankheiten wie Mumps, Masern oder Windpocken gab es nicht, als die Leute noch in kleinen Gruppen lebten und stets umherzogen." Auch Covid-19 wird vergehen. Bei den Maßnahmen ist dies nicht so sicher.

Zum Abschluss dazu ein Zitat von John Lennon: "Es gibt zwei grundlegende Motivationskräfte: Angst und Liebe. Wenn wir Angst haben, ziehen wir uns aus dem Leben zurück. Wenn wir lieben, öffnen wir uns mit Begeisterung, Spannung und Akzeptanz für alles, was das Leben zu bieten hat." Was würde möglich, wenn all die Angst vor Sars-CoV-2 in Liebe zur Natur mutierte?

Christoph E. Mandl ist Privatdozent an der
Universität Wien.

Christoph E. Mandl ist Privatdozent an der Universität Wien.