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"Konkrete Not erfordert konkrete Hilfe"

Von Walter Hämmerle

Politik

Caritas-Bischof Benno Elbs über christlich-soziale Politik angesichts der Flüchtlingsproblematik in Moria.


Die Trennung von Politik und Moral ist für den florentinischen Staatsphilosophen Niccolo Machiavelli die Voraussetzung für den Erhalt eines Gemeinwesens und inneren Frieden. Der Zweck heiligt die Mittel, könnte man die Thesen des Renaissance-Denkers zusammenfassen. Davon will die Öffentlichkeit der Gegenwart wenig wissen. Gegen die Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wappnet sich die Politik mit dem Versprechen, dass das Notwendige sich mit dem Richtigen verbinden lasse, was auch immer darunter verstanden wird.

Bei Migration und Flucht steht dieser Anspruch seit je auf wackeligen Beinen, und immer, wenn sich Menschen in Not und auf der Suche nach einem besseren Leben von Süden nach Norden auf den Weg machen, werden die Widersprüche offenbar.

Besonders in der Kritik steht dabei die ÖVP; nicht nur weil sie den Kanzler stellt, der die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria verweigert, sondern auch, weil die ÖVP sich als christlich-soziale Partei versteht. Gerade eben hat die Politische Akademie einen Sammelband herausgegeben mit dem Titel "Christlich-soziale Signaturen. Grundlagen einer politischen Debatte". Der Feldkircher Diözesanbischof Benno Elbs hat hierfür einen Beitrag über das Prinzip der Nächstenliebe in der Demokratie verfasst. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm über "Moria" und die Folgen.

"Wiener Zeitung": Seit dem Brand des Flüchtlingslagers Moria sind wieder alle Augen auf die Lage der Flüchtlinge in Griechenland gerichtet. Was müsste die Politik aus Sicht der christlichen Soziallehre jetzt tun?Benno Elbs: Christlich-soziale Politik muss sich die gleiche Frage stellen, wie auch ein christlicher Priester oder Bischof, nämlich: Was würde Jesus an meiner Stelle tun? Die Verfassung einer biblisch orientierten Politik ist deshalb Matthäus 25, 40, und dort heißt es: Was ihr einem der geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan. Wenn Menschen in Not sind, muss deshalb versucht werden, diesen auch zu helfen. Es geht dabei um die Hilfe für den Einzelnen in einer konkreten Not, und natürlich auch um die strukturelle Hilfe, die langfristig ausgerichtet sein muss. Hier ist aus meiner Sicht der Klimawandel sicher einer der drängendsten Faktoren. Auch rasche Asylverfahren an den Grenzen Europas sind wichtig. So, wie sich die Lage jetzt darstellt, sind die Menschen an der Grenze zu Europa ein Spielball der verschiedenen Mächte und Kräfte. Ich will aber betonen, dass ich alles mit großer Bescheidenheit sage. Ich weiß: Politik ist die Leidenschaft für das Mögliche, Papst Franziskus hat sie auch einmal eine edle Form der Nächstenliebe genannt, weil Politik an Situationen baut, auf dass möglichst viele Menschen möglichst gut leben können.

Ihr Blickwinkel ist der eines ethischen Imperativs, an dem die Politik, jede Politik und zumal eine demokratisch legitimierte, zwangsläufig scheitern muss. Was können Sie mit dem Argument anfangen, dass Flucht nach Europa nicht die Probleme der ganzen Welt löse und auch nicht den Eindruck vermitteln dürfe, als ob dies möglich sei?

Von der Logik und Psychologie her ist das natürlich ein Gesichtspunkt; das gilt auch für das Argument der Pull-Faktoren, die immer noch mehr Menschen nach Europa ziehen. Deshalb gibt es ja auch eine Symbolpolitik, die genau das verhindern will. Ich bin aber überzeugt, dass es auch eine Symbolpolitik der Menschlichkeit und Humanität benötigt. Im Angesicht der konkreten Not konkreter Menschen wie jetzt der Kinder in Moria, halte ich den Verweis auf Pull-Faktoren für den falschen Weg. Der Jude und französisch-litauische Philosoph Emmanuel Levinas meinte, dass die Menschen verlernt hätten, den anderen ins Angesicht zu schauen. Wer einem leidenden Menschen in die Augen schaut, muss unmittelbar aber auch strukturell helfen. Die christliche Muttersprache ist Mitgefühl, auch wenn es realpolitisch vermutlich so ist, dass Flüchtende nachrücken. Und es wird wohl auch stimmen, dass, wenn Moria leer ist, andere dafür sorgen, dass es sich schnell wieder füllt.

Und die Bilder davon werden wieder in den Medien für Schlagzeilen sorgen.

Ja, das wird wohl so sein. Wir haben es, ohne Frage, mit einem moralischen Dilemma zu tun. Wir müssen helfen und gleichzeitig alles Erdenkliche unternehmen, um zu verhindern, dass sich die Lager wieder füllen. Et-et, sowohl als auch, ist die bewährte kirchliche Zugangsweise.

Aber wie soll die Politik Ihrer doppelten Forderung gerecht werden? Zumal es unendlich viel Leid gibt, das nur nicht immer gleichzeitig via Medien in unserer Gesellschaft präsent ist.

Es wäre naiv zu glauben, ein Land, die Kirche oder die Caritas könne die Welt retten. Jesus hat gesagt, Arme werde es immer unter uns geben. Aber wir können alle unseren Beitrag leisten, jede/r Einzelne, und trotzdem gilt es zu akzeptieren, dass es für alles Grenzen gibt, dass jede/r Grenzen hat. Der frühere deutsche Bundespräsident hat einmal gesagt, unser Herz ist groß, aber unsere Möglichkeiten sind endlich - das halte ich für einen guten und vernünftigen Zugang.

Sie zitieren in Ihrem Beitrag auch zustimmend den Satz des Theologen Johann Baptist Metz, wonach es kein Leid gibt, das uns nicht angeht. Das mag als Leitmotiv für die individuelle Moral angehen, als politischen Auftrag verstanden, würde er zur permanenten Intervention mit allen, auch militärischen Mitteln führen.

Zumindest einmischen soll man sich, und natürlich lassen sich die großen Fragen der Welt nur von der Welt gemeinsam angehen und lösen. Die Idee der Vereinten Nationen geht ja grundsätzlich in diese Richtung, wenn sie denn funktionieren würde.

Aber steht hinter dem Satz von Metz ein konkreter Auftrag, der auch Gewalt als Möglichkeit mit einschließt?

Wer mit dem Schwert kämpft, wird durch das Schwert umkommen. Von daher fordert der christliche Glaube sicher keinen Einsatz für das Gute, der auf Gewalt hinausläuft, sondern umgekehrt: Es geht darum, beim Einsatz für das Gute bei sich selbst auch Leid in Kauf zu nehmen. Das erste Mittel muss immer Gewaltlosigkeit sein. Unsere Möglichkeit ist Dialog und Gespräch.

Die Kirche argumentiert als moralische Instanz. Das war nicht immer so. Über weite Teile ihrer 2000-jährigen Geschichte nutzte sie die Logik von Realpolitik für ihre Zwecke. Erst mit ihrer Entmachtung im 20. Jahrhundert trat wieder der theologische Auftrag in den Vordergrund. Beim Umgang mit Missbrauch spielten für die Kirche der Schutz ihrer Institution und die finanziellen Folgen dennoch eine Rolle. Der Politik spricht die Kirche dagegen das Recht auf Realpolitik ab.

Ja, da haben Sie schon recht. Grundsätzlich ist die Unterscheidung von Kirche und Staat unglaublich wichtig. Und die Vermischung von Realpolitik und Religion war selten zum Segen der Menschen, und zwar ganz egal, um welche Religion es sich jeweils handelt, ob Christentum, Hinduismus oder Islam. Diese Unterscheidung ermöglicht natürlich eine größere Freiheit im Hinblick auf die Ideale, die eine Institution vertritt. Mit der Politik sind da Konflikte vorprogrammiert, weil diese im Konkreten auf Grenzen trifft. Ein anderer Aspekt ist die Ohnmacht: Wenn man auf Jesus schaut, auf das Kreuz, dann sieht man, dass seine Macht die Ohnmacht ist. Deus caritas est, Gott ist die Liebe, heißt es, und diese Liebe ist immer auch ohnmächtig. Aber in dieser Ohnmacht liegt große Kraft. Von daher ist der Weg der Kirche einer der Ohnmacht, weil in dieser Situation immer auch das Gottvertrauen am stärksten ist. Dabei braucht aber, und das Thema Missbrauch hat das sehr deutlich gemacht, jede Institution immer die Kontrolle von außen. Jede Organisation, die sich selbst kontrolliert und ihre eigenen Themen regelt, wird im Zweifel auch ihre eigenen Interessen über die anderer stellen. Deshalb muss sich und will sich die Kirche auch offensiv dieser externen Kontrolle unterwerfen.

Wenn es um gesellschaftspolitisch heiß umkämpfe Themen wie den Kampf gegen Armut und den Umgang mit Migration geht, ist von der Amtskirche nur selten, dafür aber von der kirchlichen Teilorganisation Caritas umso mehr zu hören, die oft mit so klaren wie kantigen Forderungen öffentlich auftritt. Ist das eine bewusste Zwei-Firmen-Strategie, die die Kirche aus diesen hochpolitischen Fragen heraushalten will?

Nein, wenn die Caritas spricht, spricht die Kirche. Die Gottes- wie die Nächstenliebe sind untrennbar verbunden. Wer bei Gott eintaucht, taucht unweigerlich beim armen Menschen auf - und umgekehrt. Der Handlungsleitfaden für Christen ist hier das Bild vom barmherzigen Samariter: Kein Christ, keine christliche Gemeinschaft und Organisation darf am Leid anderer einfach vorbeigehen. Allerdings erfordert unsere Zeit die Notwendigkeit einer Spezialisierung und Professionalisierung. Pfarren, Orden und Bischöfe sind hier überfordert, deshalb haben wir mit der Caritas hier eine Organisation gegründet, die der Nächstenliebe eine professionelle Form und Stimme gibt.