Zum Hauptinhalt springen

Schuldzuweisung um Haftentlassung

Von Daniel Bischof und Martin Tschiderer

Politik

Rund um die vorzeitige Entlassung des Wiener Attentäters aus dem Gefängnis ist eine Debatte um Behördenfehler entbrannt. Innenminister Nehammer will das System evaluieren. Der Verein Derad verteidigt sich. Ein Überblick.


Einigkeit war nach dem Wiener Terroranschlag das Wort der Stunde. Einig waren sich Bundeskanzler Sebastian Kurz und Innenminister Karl Nehammer (beide ÖVP) auch, dass der Justiz bei der Behandlung des Attentäters Fehler unterlaufen sind. Als "definitiv falsch" bezeichnete Kurz die vorzeitige Entlassung des Terroristen aus dem Gefängnis. Er war nach Verbüßung von zwei Drittel seiner Freiheitsstrafe unter Auflagen entlassen worden.

Man müsse die Frage stellen, warum diese Entscheidung vom Gericht so getroffen wurde, sagte der Bundeskanzler. Auch Nehammer übte Kritik an der Justiz: Obwohl der Mann bereit gewesen sei, in den Krieg zu ziehen und sich dem Islamischen Staat anzuschließen, sei er vorzeitig aus seiner Haftstrafe entlassen worden. Er forderte eine Evaluierung des Systems und kündigte die Einsetzung einer Untersuchungskommission an.

Justizministerin Alma Zadic (Grüne) stellte sich schützend vor ihr Ressort. Die bedingte Entlassung sei gemäß der üblichen Praxis und im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben erfolgt. Auch wurde seitens des Ressorts betont, dass das Innenministerium Hinweise über den versuchten Munitionskauf des Terrorattentäters in der Slowakei an die Justiz nicht weitergegeben habe (siehe Seite 11). Die "Wiener Zeitung" gibt einen Überblick zu der Debatte.

Was ist eine bedingte Entlassung?

Es handelt sich um eine vorzeitige Entlassung des Verurteilten aus seiner Freiheitsstrafe. Sie ist bei Haftstrafen über drei Monate möglich. Im Justizministerium wird betont, dass mit dieser Maßnahme ein Beitrag zur Resozialisierung geleistet werde. Die Rückfallquote betrage bei einer bedingten Entlassung 38 Prozent, bei Verbüßung der gesamten Strafzeit liege sie bei 54 Prozent, so eine Ressortsprecherin zur "Wiener Zeitung". Daher werde sie in den meisten Fällen auch angewandt.

Das Verfahren zur bedingten Entlassung ist im Strafvollzugsgesetz geregelt. Zuständig für die Entscheidung ist ein Einzelrichter des Strafgerichts, in dessen Sprengel die Haftstrafe vollzogen wird. Er hat eine bedingte Entlassung von Amts wegen zu prüfen, wenn der Verurteilte innerhalb des nächsten Vierteljahres die Hälfte oder zwei Drittel seiner Haftstrafe verbüßt haben wird.

Vor der Entscheidung muss der Richter den Personalakt des Häftlings und die Akten über das Strafverfahren prüfen. Weiters muss er eine Stellungnahme des Gefangenen, des Anstaltsleiters und der Staatsanwaltschaft einholen.

Ein besonderes Vorgehen ist bei Jugendlichen möglich: Hier kann vor einer bedingten Entlassung eine Sozialnetzkonferenz abgehalten werden. Organisiert wird sie vom Bewährungshilfeverein Neustart. Bei der Konferenz wird das soziale Umfeld des Verurteilten eingebunden, um Pläne für dessen Resozialisierung nach der Entlassung zu entwerfen.

Im Strafgesetzbuch ist festgehalten, dass der Verurteilte grundsätzlich nach Verbüßung der Hälfte oder zwei Drittel seiner Freiheitsstrafe bedingt zu entlassen ist. In diesem Fall müssen ihm aber unter Setzung einer Probezeit Weisungen wie der Besuch einer Bewährungshilfe aufgetragen werden. Unter Berücksichtigung dieser Maßnahmen muss anzunehmen sein, dass er durch die Entlassung "nicht weniger als durch die weitere Verbüßung der Strafe" von weiteren Straftaten abgehalten wird.

Eine bedingte Entlassung bringe den Vorteil, "dass man mit den Auflagen länger auf den Verurteilten einwirken kann", sagt die Ressortsprecherin. Verbüßt der Häftling seine ganze Strafzeit, sind danach keine Auflagen möglich. Bei einer bedingten Entlassung muss er sich während der gesamten Probezeit an die Auflagen halten, auch wenn diese über die eigentliche Strafzeit hinausgeht. Verstößt der Verurteilte dagegen, kann die Entlassung widerrufen werden.

Gibt es besondere Programme für inhaftierte Terroristen?

Personen, die wegen terroristischer Straftaten inhaftiert sind, absolvieren grundsätzlich denselben Vollzug wie andere Strafgefangene. Gesonderte Abteilungen in den Gefängnissen gibt es für sie nicht. Die Unterbringung in den normalen Abteilungen habe sich bewährt, wird im Justizministerium festgehalten.

Die vom Justizministerium eingesetzte Arbeitsgruppe "De-Radikalisierung im Strafvollzug" erarbeitete spezielle Maßnahmen für terroristische Straftäter. In jeder Justizanstalt gibt es zwei speziell geschulte Justizwachebeamte als Kommunikations-Schnittstellen zu den Landesämtern für Verfassungsschutz (LVT). Zudem wurden Gesprächsangebote zur Extremismus-Prävention und Analyseverfahren zur Risikoeinschätzung ausgeweitet.

Was ist im konkreten Fall passiert?

Der Wiener Attentäter F. war im September 2018 mit einem zweiten Mann in die Türkei gereist, um sich dem Islamischen Staat in Syrien anzuschließen. Vor dem Grenzübertritt wurde er von türkischen Behörden festgenommen. Im Jänner 2019 wurde er nach Österreich zurückgewiesen, wo über ihn die Untersuchungshaft verhängt wurde. Am 25. April 2019 wurde er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 22 Monaten Haft verurteilt. Die Zeit, die er bis dahin in der Türkei und in Österreich im Gefängnis saß, wurde auf die Strafzeit angerechnet. Hätte er die volle Haftstrafe abgesessen, wäre er daher im Juli 2020 aus dem Gefängnis entlassen worden.

F. wurde aber im Dezember 2019 bedingt aus der Haft entlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er zwei Drittel seiner Haftzeit verbüßt. Vor seiner Entlassung wurde eine Sozialnetzkonferenz durchgeführt. Als Auflage wurde ihm unter einer Probezeit von drei Jahren aufgetragen, ein Deradikalisierungsprogramm des Vereins Derad zu absolvieren und die Bewährungshilfe regelmäßig aufzusuchen. Diese Auflagen habe F. eingehalten, sagte Justizministerin Zadic. Auch sei das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung über die Entlassung informiert worden.

Nehammer kritisierte, dass der Attentäter es geschafft habe, das Deradikalisierungsprogramm der Justiz "perfekt zu täuschen". Eine Evaluierung und Optimierung des Systems sei daher dringend notwendig. Er werde dem nationalen Sicherheitsrat die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission vorschlagen, um Licht in den Fall zu bringen und Behördenfehler aufzuzeigen.

Welche Rolle spielte der Verein Derad?

Bei Deradikalisierungsmaßnahmen arbeitet die Justiz eng mit dem Verein Derad zusammen. Die Kritik von Nehammer, wonach der Täter vorzeitig entlassen worden sei, weil Justiz und Prävention versagt haben, wies Moussa Al-Hassan Diaw im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" zurück. Man habe F. auch nie als "deradikalisiert" dargestellt. Weder Gerichte noch Derad hätten zudem die Möglichkeiten des Verfassungsschutzes - etwa Personen zu überwachen oder Telefone abzuhören -, so Diaw.

Der Verein plädierte für bessere Zusammenarbeit statt Schuldzuweisungen. Derad kann Straftäter betreuen, die vorzeitig aus der Haft entlassen werden - nach Ende der Probezeit erlischt der Auftrag. Klienten können dann zwar weiter freiwillig im Austausch mit Derad stehen, eine Verpflichtung gibt es nicht. "Eine weitere Betreuung dieser Personen wäre aber notwendig", sagt Diaw. Es käme oft vor, dass Klienten zwar oberflächlich sozial angepasst seien, aber ihre Ideologie weiterhin verfolgten und das Gedankengut weiterverbreiteten.