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Die Todesstrafe wird immer stärker abgelehnt - die Akzeptanz für Sterbehilfe hingegen wächst

Von Willibald J. Stronegger

Politik
Willibald J. Stronegger ist Professor am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Medizinischen Universität Graz. Er veranstaltet seit 2017 das "Goldegger Dialogforum Mensch und Endlichkeit". Zuletzt erschienen von ihm "Altersbilder und Sorgestrukturen" (Nomos Verlag), "Die Covid-19- Pandemie aus biopolitischer Perspektive" (in: "Die Corona-Pandemie", Nomos) und "Saunders Hospizgründung aus der Sicht des Böckenförde-Diktums" (in: Lebensende in Institutionen, Sramek Verlag).
© privat

Assistierter Suizid nach Wunsch? Das Meinungsbild in den Gesundheitsberufen unterscheidet sich hier deutlich von jenem in der Gesamtbevölkerung.


Hinsichtlich der Legitimität von Tötungshandlungen vollzieht sich in Europa seit dem 19. Jahrhundert ein biopolitischer Wandel, der sich paradigmatisch einerseits in der zunehmenden ethischen und juridischen Ablehnung der Todesstrafe bei andererseits zugleich wachsender Akzeptanz des Suizids abbildet. Wertestudien bestätigen seit vielen Jahren eine anhaltende Zunahme der Akzeptanz der Sterbehilfe (der Tötung auf Verlangen) sowie des assistierten Suizids für fast alle westeuropäischen Länder.

Der Blick in die Niederlande, Paradebeispiel und Vorreiter einer Liberalisierung der Sterbehilfegesetzgebung, zeigt, dass noch bis Mitte der 1960er für die Mehrheit der niederländischen Bevölkerung die vorzeitige ärztliche Lebensbeendigung auf Wunsch als unakzeptabel galt. Etwa ein Jahrzehnt später lehnte nur noch etwa jeder Achte Befragten die Liberalisierung der Sterbehilfe eindeutig ab. Seither folgten diesem Trend zuerst weitere protestantisch geprägte Staaten, danach begann auch in Ländern mit überwiegend katholischem Geschichtshintergrund die Forderung nach Liberalisierung in unregelmäßigen Abständen, aber hartnäckig in Erscheinung zu treten. Weshalb erscheint heute wünschenswert, was über viele Jahrhunderte auf gesellschaftlicher Ebene außer Betracht blieb?

60 Prozent für Legalisierung, ein Drittel dagegen

Oft wird der Sinn von Befragungen der Bevölkerung zu ihrer Haltung zur Sterbehilfe beziehungsweise zum assistierten Suizid missverstanden. Derartige Erhebungen geben keinen Aufschluss über den richtigen und sinnvollen Weg in dieser komplexen Frage, ermöglichen aber einen Einblick in die gesellschaftliche Realität, die über kurz oder lang politische und - im Idealfall mit grundrechtlichen Absicherungen - auch juridische Realität wird.

Bevölkerungsbefragungen in Österreich oder Deutschland zeigen seit den 2010ern in der Regel etwa konstante Zahlen: Die Zustimmung zu einer Legalisierung liegt bei etwa 60 Prozent, die Ablehnung bei einem Drittel, und 6 bis 8 Prozent äußern keine Meinung. Detailliertere Analysen des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie der Medizinischen Universität Graz ermöglichten ein besseres Verständnis dieser nur groben Einstellungszahlen.

Erstmals in unserer repräsentativen Erhebung von 2015 wurde zwischen einem strikten Verbot und einem Verbot, das im Falle besonders schwer leidender unbehandelbarer Einzelfälle eine Straffreiheit für vorzeitige Lebensbeendigung vorsieht ("existenzielle Notlage"), unterschieden. Fast alle Befragten dieses Drittels der Befürworter eines Verbots des assistierten Suizids unterstützten die Straffreiheitsregelung für extreme Einzelfälle, lehnen die Straffreiheit jedoch im Falle alleiniger Unheilbarkeit der Krankheit oder "nur" schwerer psychiatrischer Krankheit ab.

Geringere Zustimmung bei medizinischem Personal

Auf der Seite der Befürworter lassen sich ebenso weitere Unterscheidungen treffen. Von diesen rund 60 Prozent sind nicht ganz die Hälfte (also 25 Prozent der Bevölkerung) "harte" Befürworter, für die allein der eigene freie Wille, die "freie Selbstbestimmung", schon den Anspruch auf assistierten Suizid legitimiert. Der andere Teil der "moderaten" Befürworter (also ein Drittel der Bevölkerung) stimmt der Legalisierung nur bezogen auf Personen mit schwerster unheilbarer Krankheit, vor allem mit Schmerzen, zu. Insgesamt gesehen besteht in der überwiegenden Mehrheit (zwei Drittel) der Bevölkerung die Zustimmung zum assistierten Suizid nur für die Gruppe der äußerst schwer leidenden und unheilbaren Krankheitsfälle, wobei etwa die Hälfte dies über eine Legalisierung des assistierten Suizids für diese Extremfälle realisiert sehen möchte, die andere Hälfte über ein Verbot mit ausnahmsweiser Straffreiheit.

Noch einmal anders stellt sich die Situation bei medizinischem Personal dar. Aus Studien in mehreren Ländern ist bekannt, dass unter dem Gesundheitspersonal die Zustimmung zur Sterbehilfe vergleichsweise geringer ausfällt als in der jeweiligen Allgemeinbevölkerung. Für Österreich bestätigte dies 2016 eine Piloterhebung des Instituts für Sozialmedizin unter Ärzten und Pflegepersonal. Eine absolute Mehrheit des befragten Personals (56 Prozent gegenüber 34 Prozent in der Bevölkerung) sprach sich gegen die Legalisierung aus, nur 36 Prozent dafür (dagegen wie angeführt in der Bevölkerung gut 60 Prozent).

Die Auswertungen sind noch nicht abgeschlossen, überträgt man aber näherungsweise die Relationen unter den Bedingungen auf diese Gruppe, so ist klar, dass ein deutlich überwiegender Teil des medizinischen Personals assistierten Suizid nur für besonders schwerwiegende und unheilbare Krankheitsfälle als ausnahmsweise zulässigen Weg begreift. Zu dieser ablehnenden Haltung dürften neben traditionellen und berufsethischen Überzeugungen auch die beruflichen Erfahrungen mit Sterbesituationen beitragen. Insgesamt liegt die insofern paradoxe Situation vor, dass gerade jene, die als Experten und Praktiker für assistierten Suizid von der Bevölkerung überwiegend (von drei Vierteln) gewünscht werden, diesem selbst mehrheitlich ablehnend gegenüberstehen.

Historisch gesehen war die fremdbestimmte wie auch die selbstbestimmte Lebensbeendigung keine reguläre Aufgabe der Ärzte. Für Erstere gab es den Beruf der Scharfrichter, die wegen ihrer anatomisch-medizinischen Kenntnisse mitunter auch als Heiler tätig waren. Unter den neu geschaffenen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen könnten die Grenzen zwischen diesen Berufungen wieder undeutlich werden. So wie die Grenze zwischen Selbst- und Fremdbestimmung unter den Bedingungen des hohen Alters und Lebensendes unschärfer sein kann, als es sich viele vorstellen wollen oder können.