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Pelinka: "Schuldenmachen wird zur Tugend"

Von Martin Tschiderer

Politik

Der Politologe Anton Pelinka über die "Goldenen Zwanzigerjahre" als Elitenphänomen, das Revival von John Maynard Keynes und die Bedrohung der Demokratie durch die Krise der Pandemie.


Das Ende der letzten großen Pandemie, der Spanischen Grippe, markierte 1920 den Startschuss für die "Goldenen Zwanzigerjahre", eine Zeit ökonomischen Aufschwungs und gesellschaftlichen Aufbruchs. Könnte das Ende der Corona-Pandemie in neue "Roaring Twenties" münden?

"Wiener Zeitung": Zwischen den 1920ern und den 2020ern liegen Welten. Damals kam die Welt frisch aus dem bis dahin größten Krieg der Geschichte. Auch die gesamte politische wie ökonomische Situation war eine völlig andere. Was halten Sie also von solchen Vergleichen?

Anton Pelinka: Vergleichen ist gut, wenn man es nicht mit Gleichsetzen verwechselt. Die Unterschiede zwischen der Zeit vor 100 Jahren und heute sind gewaltig. Wir haben seither die Entkolonialisierung erlebt, der europäische Imperialismus ist zu Ende gegangen. Außerdem gibt es aktuell keine systematische Entwicklung in Richtung Ein-Parteien-Diktatur. Auch heute existieren Diktaturen, am prominentesten die Volksrepublik China. Aber es fehlt ein Gegenmodell zur liberalen Demokratie, wie es einst die Sowjetunion war. Auch heute gibt es jede Menge autoritäre Regime. Aber nicht den Faschismus als Modell, wie es in den 1920ern beginnend von Italien auf ganz Europa ausgestrahlt hat.

Die "Goldenen Zwanziger" stehen für wirtschaftlichen Aufschwung. Aktuell stecken wir aber in einer Rezession, die sich je nach Dauer der Pandemie auch zu einer tieferen Wirtschaftskrise auswachsen könnte.

Auch der Aufschwung der 1920er Jahre war ein sehr selektiver. Er fand vor allem in den USA statt. Bis zum "Schwarzen Freitag" 1929 gab es dort starkes Wirtschaftswachstum infolge einer rasanten industriellen Entwicklung. Begleitet war das von wesentlichen demografischen Verschiebungen wie dem Exodus großer Teile der afroamerikanischen Bevölkerung aus den Südstaaten in den Norden.

Und der deutsche Wirtschaftsboom, der zumindest einige Jahre anhielt?

In Deutschland war Mitte der 1920er Jahre die Hyperinflation vorbei, damit gab es ein paar Jahre Aufschwung. Dann kam aber schon die Weltwirtschaftskrise. Ein globales Phänomen waren die Goldenen Zwanziger jedenfalls nicht. Die fehlende Perspektive eines globalen Wirtschaftsaufschwungs heute ist also kein so großer Unterschied zu damals. Der Mythos des Berlins der 1920er Jahre beruht auf selektiven Wahrnehmungen, die nur eine punktuelle Realität wiedergegeben haben. Die "Roaring Twenties" werden insgesamt mystifiziert.

Weil sie geografisch beschränkt waren, aber auch, weil Aufschwung und gesellschaftliche Öffnung in den "Roaring Twenties" vor allem ein Elitenphänomen waren?

Es war auch ein rein urbanes Phänomen. Das gab es in Berlin, aber nicht in Sachsen und Ostpreußen. In New York und Chicago, aber nicht in West Virginia und Texas. Auch in Österreich war wenig spürbar, abseits vielleicht einer gewissen liberalen Aufbruchsstimmung in Wien - einerseits durch das "Rote Wien", andererseits durch die erheblichen hochkulturellen Entwicklungen, etwa in der Literatur der 1920er Jahre. Im Zillertal oder im Südburgenland hat man davon aber nichts gemerkt.

Das Werk, das genau diese urbanen Phänomene beschreibt, ist F. Scott Fitzgeralds "The Great Gatsby" aus 1925. Es dreht sich um das dekadente Partyleben einer kleinen New Yorker Oberschicht, thematisiert aber auch die Armut der Kohlearbeiter gleich nebenan.

Das ist sehr typisch für diese Zeit: der lineare Fortschrittsoptimismus, die Vorstellung von "Anything goes". Es gab da eine Naivität der urbanen Eliten, dass es immer aufwärts geht, alles nur noch besser und größer wird. Darauf folgte der tiefe Absturz 1929. Etwas Ähnliches passiert heute durch die Pandemie.

Wenn man die Pandemie als Auslöser einer Wirtschaftskrise mit dem Börsencrash 1929 vergleicht, müsste man die 2020er eigentlich den 1930ern gegenüberstellen, nicht den 1920ern.

Ökonomisch ja. Politisch sehe ich keine Anzeichen, dass es heute eine konsistente Alternative zur liberalen Demokratie gäbe, wie die Sowjetunion das einst für sich in Anspruch nahm - auch mit Berufung auf die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Das heutige chinesische Modell ist ein autoritärer Kapitalismus, ebenso wie das Putin- und das Erdogan-Regime. Die Gegenmodelle sind punktuell, aber beanspruchen keine Universalität. Der Marxismus-Leninismus ist wirklich vorbei, auch wenn China so tut, als gäbe es ihn noch.

Auch die allgemeinen Wohlstands-Zuwächse der vergangenen Jahre und Jahrzehnte sind kaum mit den 1920er Jahren vergleichbar.

Die Aufbruchsstimmung in den 1920er Jahren war nicht unterfüttert von einem Wohlstandsgewinn der Gesamtbevölkerung. Das war in den vergangenen Jahren anders. Die weltweite Armut ist bis zum Vorjahr ebenso zurückgegangen wie der Analphabetismus. Es gab also viel mehr Grund, an einen linearen Fortschritt zu glauben, als vor 100 Jahren. Nur: Dann kam die Pandemie und zeigte, wie brüchig alles doch ist. Es ist aber kein Systemversagen, sondern ein Einbruch der Natur in die Kultur.

Die berühmte soziale Schere dürfte durch die Pandemie weiter aufgehen.

Das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit passieren. Aktuell sehen wir das interessante Phänomen, dass der totgesagte John Maynard Keynes plötzlich wieder groß da ist. Die Lockerheit, mit der sich Regierungen aktuell verschulden, mit der auch der österreichische Bundeskanzler, der vor zwei Jahren noch ein Nulldefizit versprach, jetzt sagt: "Koste es, was es wolle", ist bemerkenswert. Das Schuldenmachen ist, aus meiner Sicht unvermeidlich, von einer Untugend zur Tugend geworden. Das ist ein Paradigmenwechsel.

Welche Auswirkungen könnte die Pandemie auf die Demokratie haben?

Ich bin eher optimistisch und glaube nicht, dass die grundsätzliche Demokratiequalität Österreichs in Gefahr ist. Für die FPÖ mag das nicht gelten, aber zwischen Regierung, SPÖ und Neos gibt es einen politischen Grundkonsens in der Pandemiebekämpfung. Das sind Zeichen dafür, dass man von einer Stabilität der Demokratie ausgehen kann, dass die Demokratien standhalten. Aber natürlich gibt es keine Garantie. Und wenn die Pandemie nicht unter Kontrolle zu bringen ist, sind politische Vorhersagen nicht möglich.

Auch an den Corona-Demos zeigt sich: Die Unzufriedenheit über die Corona-Politik der Regierung wächst. Die Demos werden ihrerseits vom organisierten Rechtsextremismus vereinnahmt. Für wie gravierend halten Sie das?

Es ist eine Instrumentalisierung grundsätzlich verständlicher Proteste durch extreme Gruppen: Rechtsextreme, auch Linksextreme, als prinzipielle Gegner der demokratischen Republik, der liberalen Demokratie, nützen die Stimmung für ihre Zwecke aus. Ich hielte es für entscheidend, dass die Bundesregierung dafür gemeinsam mit Opposition, Landesregierungen und der Sozialpartnerschaft eine Gesamtstrategie entwickelt.

Auch wenn der Sturm aufs Kapitol gescheitert ist: Die Bilder werden ikonisiert und entfalten international Mobilisierungspotenzial. Auch in heimischen Telegram-Gruppen tauchten Ideen auf, das Parlament zu besetzen.

Und auch in Berlin gab es einen Sturm auf das Reichstagsgebäude. Der war zwar insgesamt nicht so gewaltsam wie jener auf das Kapitol, aber es zeigt ein Potenzial, das da ist. Die Bilder vom 6. Jänner auf CNN haben mich an Petrograd 1917 erinnert (die "Oktoberrevolution", die die Herrschaft der provisorischen Regierung in Russland beendete, Anm.). In den USA kam allerdings die Rolle des damals amtierenden Präsidenten Donald Trump hinzu. In Petrograd war es die Hilflosigkeit der Regierung, die den Putsch glücken ließ.

Wie sollen wir also umgehen mit der Mobilisierung durch Extremisten?

Kurzfristig geht es darum, zu erinnern, dass die Demokratie wehrhaft sein muss. Polizei und gegebenenfalls Militär dürfen nur im Sinne rechtsstaatlicher Autorität unter Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols agieren. Aber sie müssen agieren, nicht zuschauen. Langfristig braucht es Überzeugungsarbeit und politische Bildung, die aufzeigt: Was sind denn die Alternativen zur Demokratie? Auch Hinweisen auf Widersprüche ist wichtig. Wenn etwa FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl heute als Retter der individuellen Freizügigkeit auftritt, kann man schon fragen: Wie hat er sich denn einst als Innenminister zur individuellen Freizügigkeit geäußert? Etwa zu jener muslimischer Mädchen, Kopftuch tragen zu können?

Zur Person~