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Vom linken Unmut zur "Ehe für alle"

Von Daniel Bischof

Politik

Einst kam die Kritik am Verfassungsgerichtshof eher von der politischen Linken. Nun will die ÖVP ein Sondervotum am Höchstgericht einführen - gegen dessen Willen. Eine Reise durch die Justizdebatten.


Es ist ein schwerer Stand, den die Justiz derzeit in der ÖVP hat. An der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft arbeitet sich die Volkspartei regelmäßig ab. Und auch auf verfassungsrechtlicher Ebene gibt es Dissonanzen.

"Es wird immer Personen geben, die juristisch spitzfindig sind", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im April 2020 zur Kritik an der rechtlichen Umsetzung der Corona-Maßnahmen. Ihm gehe es darum, soziale Kontakte zu reduzieren, und da sei es "ganz gleich, was Juristen dazu sagen". Am Verfassungsgerichtshof (VfGH) will Türkis-Grün nun auch die Möglichkeit für Richter einführen, ein Sondervotum abzugeben. Das Höchstgericht spricht sich dagegen aus, die ÖVP beharrt dennoch auf der Reform.

Die Debatten markieren eine Diskursverschiebung: Einst war es eher die politische Linke, die im Clinch mit dem VfGH lag. In den 1990er-Jahren beklagten SPÖ, Grüne und Gewerkschaften eine "konservative Linie" des Höchstgerichts. Die SPÖ pochte auf die Einführung eines Sondervotums, die ÖVP lehnte das ab.

Zäsur in 1980er Jahren

"Die Annahme, dass der VfGH zunächst eine konservative Linie verfolgte und jetzt in ein liberales Feld übergetreten ist: So pauschal kann man das nicht sehen", sagt Ludwig Adamovich, der von 1984 bis 2002 Präsident des VfGH war. Adamovich verweist etwa auf das Erkenntnis zur straffreien Abtreibung aus dem Jahr 1974, wonach die sogenannte Fristenlösung zulässig ist.

1977 hielt vor dem Höchstgericht auch die Universitätsreform. Mit dieser wurden die Macht der Professoren beschränkt und demokratischere Strukturen auf den Unis eingeführt. "Diese Entscheidungen kann man beim besten Willen nicht als konservativ bezeichnen", sagt Adamovich.

In den Jahren nach diesen Erkenntnissen erfolgte aber eine Zäsur. "Der Verfassungsgerichtshof hat von seinen Prüfungskompetenzen in der Zweiten Republik lange eher zurückhaltend Gebrauch gemacht. Er hat dem Gesetzgeber viel Spielraum gelassen", sagt Christoph Bezemek, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Uni Graz. Rund um den Anfang der 1980er Jahre habe das Höchstgericht aber allmählich angefangen, anhand der Grundrechte - und insbesondere des Gleichheitssatzes - offensiver zu prüfen.

Die Furcht der SPÖ

"Das hat vor allem bei der SPÖ Unmut ausgelöst", sagt Adamovich. Diese habe aufgrund der Vorgänge rund um den Justizpalastbrand und der darauffolgenden autoritären Systeme "ein Trauma von der Justiz gehabt". Daher sei der Gedanke, dass sich der VfGH künftig mehr einmischen könnte, auf Misstrauen gestoßen: "Die SPÖ hat befürchtet, dass der Gerichtshof damit den Spuren der deutschen Judikatur folgt." Das Bundesverfassungsgericht habe nämlich wesentlich offensiver geprüft als der VfGH: "Es hat nicht davor zurückgeschreckt, dem Gesetzgeber zu zeigen, wie er es besser machen könnte."

Bis zu einem gewissen Grad habe sich der VfGH ja auch auf dieses Terrain begeben - "auch, wenn es nie so weit gekommen ist wie beim Bundesverfassungsgericht", erklärt Adamovich. In seine Amtszeit fielen mehrere Entscheidungen, die bei Sozialdemokraten, Grünen und der Gewerkschaft für Missmut sorgten.

Im Jahr 1987 entschied das Höchstgericht etwa, dass die Heiratsausstattung steuerlich absetzbar ist. Der damalige Nationalratsabgeordnete (SPÖ) und spätere Nationalbank-Gouverneur, Ewald Nowotny, bezeichnete das als ein Beispiel "einer in den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts verwurzelten Klassenjustiz". Der Verfassungsgerichtshof zeige Ambitionen, in verteilungspolitischen Fragen als konservative Neben- und Gegenregierung aufzutreten. Kritik gab es auch 1992 nach einem Erkenntnis rund um die Familienbesteuerung. Die Grünen, SPÖ und Gewerkschaft der Privatangestellten erkannten darin eine konservative Linie. ÖVP-Klubobmann Heinrich Neisser hielt es für unfair, dass die Verfassungsrichter in ein "reaktionär-konservatives" Eck gedrängt werden würden.

Auffallend ist, dass 1992 Staatssekretär Peter Kostelka (SPÖ) ein Sondervotum vorschlug. Die ÖVP sprach sich dagegen aus. "Das hauptsächliche Argument gegen das Sondervotum ist ja, dass der Gerichtshof mit einer Zunge sprechen soll. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass er ein juristisches Seminar abhält, bei dem der eine so und der andere so argumentiert", sagt Adamovich. Es habe sich aber auch gezeigt: "Der Ruf nach einem Sondervotum ist immer dann aufgetreten, wenn eine Partei - meistens war es die SPÖ - mit einer Entscheidung nicht einverstanden war", so Adamovich. Daher bestehe die Gefahr, dass Parteien das Votum nützen, um auf einzelne Richter Druck auszuüben.

Richtungsschwenk bei ÖVP

Heute spricht sich die ÖVP für das Sondervotum aus, während gerade die SPÖ auf einmal skeptisch ist. Mit der Beibehaltung der derzeitigen Rechtslage wären die Richter besser geschützt, erklärte SPÖ-Verfassungssprecher Jörg Leichtfried unlängst.

Zuletzt hat der VfGH einige Entscheidungen getroffen, mit denen Konservative und Rechte keine Freude haben. Die Kritik, der VfGH sei zu konservativ, findet sich heute kaum noch. Vielmehr begrüßen Neos, Grüne und SPÖ regelmäßig die Entscheidungen, während sie ÖVP und FPÖ zuwiderlaufen. Der VfGH hat in den vergangenen Jahren nämlich nicht nur wichtige Reformen der türkis-blauen Regierung aufgehoben, darunter wesentliche Teile des Sicherheitspakets und der neuen Sozialhilfe sowie das Kopftuchverbot an Volksschulen. Er stellte mit der "Ehe für alle" oder dem Kippen des Verbots der Beihilfe zum Selbstmord auch gesellschaftspolitische Weichen.

Verfassungsrechtler Bezemek sieht in der Judikatur des Höchstgerichts einen progressiven Trend. Das liege vor allem daran, dass die "gesamteuropäische Perspektive den VfGH in den vergangenen Jahrzehnten stark geprägt hat". Die Position des Höchstgerichts sei eng mit dem dynamischen gesamtrechtseuropäischen Grundrechtsstandard und der progressiven Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verbunden. "Das gilt gerade auch in gesellschaftspolitischen Fragen. Sie werden in ganz Europa von gemeinschaftlichen Wertvorstellungen geprägt", sagt Bezemek.

"Da kann man schärfer werden"

Auch habe die Politik vermehrt gesellschaftspolitische Entscheidungen an den Verfassungsgerichtshof ausgelagert, so der Verfassungsrechtler. Die sich über Jahre hinziehende Debatte um die "Ehe für alle" entschied etwa letztlich das Höchstgericht im Dezember 2017. "Die familienrechtlichen Entscheidungen und jene zur Sterbehilfe: Die waren mit Sicherheit nicht konservativ", sagt Adamovich.

Wie soll der VfGH nun auf diese sich verändernden Debatten reagieren? Bei politischen und medialen Diskursen sei die Antwort darauf schwierig, so der Ex-VfGH-Präsident: "Der VfGH kann sich ja nicht wie ein Politiker oder Journalist äußern." Wenn bei der Kritik aber Grenzen überschritten werden, müsse sich das Höchstgericht auch wehren. Anlässlich einer VfGH-Entscheidung zur Ortstafelregelung im Volksgruppengesetz im Dezember 2001 startete der damalige Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider etwa eine persönliche Kampagne gegen Adamovich. Bei solchen Angriffen müsse das Höchstgericht in die Offensive gehen: "Da kann man auch schärfer werden."