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Der versäumte erste Kuss

Von Petra Tempfer

Politik
Viele konnten sich den ersehnten ersten Kuss im Corona-Jahr sprichwörtlich aufzeichnen  –  ist doch gerade beim Küssen das Ansteckungsrisiko enorm.
© Daniel Tafjord

Gerade für Teenager dauerte das Corona-Jahr eine Ewigkeit: Gelegenheiten für die erste Liebe und das Loslösen von den Eltern gab es kaum.


Ein Jahr Ausnahmezustand. Ein Jahr Angst, Isolation und vor allem: körperliche Distanz. Am 16. März jährt sich der erste Lockdown zur Eindämmung des Coronavirus zum ersten Mal - gerade für Jugendliche, pubertierende Teenager, bedeuteten die Maßnahmen einen tiefen Einschnitt in deren natürliche Entwicklung. Die Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht und ersten sexuellen Erfahrungen blieb oft ungestillt. Bedingt durch das Schließen der Clubs und das Partyverbot blieb der erste Kuss oft aus. Psychologen zufolge könnte die Angst vor Ansteckung und Intimität sogar langfristige Folgen für die sogenannte Corona-Jugend haben.

"Man muss dieses Jahr in Relation zur Lebenszeit sehen", sagt dazu Ulrike Zartler vom Institut für Soziologie an der Universität Wien: "Ein Jahr ist für einen 14-Jährigen eine unendlich lange Zeit. Viel länger als zum Beispiel für einen 40-Jährigen." Es war ein Jahr, in dem er eigentlich seine Grenzen hätte austesten wollen. In dem es zur natürlichen Entwicklung gehört hätte, sich von den Eltern zu lösen und Regeln zu überschreiten, um weiterzukommen. Das ist bei den verordneten Ausgangsbeschränkungen und der Isolation schwierig. Und ein erster Kuss scheint angesichts des hohen Ansteckungsrisikos fast schon fatal.

"Den Jugendlichen fehlt ein Jahr Übung"

Somit blieb auch den Jugendlichen nichts anderes übrig, als zuhause zu bleiben. Und erste Flirts und das erste Herantasten auf Online-Chats zu verlegen. Das Problem dabei: "Den Jugendlichen fehlt ein Jahr Übung", sagt Bernhard Kittel vom Institut für Wirtschaftssoziologie an der Universität Wien zur "Wiener Zeitung". Und nicht nur, dass sie im Moment aufgrund der Anzahl der Neuinfektionen dazu angehalten sind, einander fern zu bleiben: Die innere Angst, sich anzustecken, und damit die Grundeinstellung, dass Nähe gefährlich und Küssen der absolute Gipfel der Leichtsinnigkeit sei, könne bleiben. "Das wird schon noch seine Nachwirkungen haben", sagt Kittel. "Die Distanzierung bleibt."

Auch Zartler ist von langfristigen Folgen überzeugt. Künftig könnte, geschürt durch die eingebläuten Vorsichtsmaßnahmen, "nur ein negativer Covid-19-Test die Eintrittskarte für den ersten Kuss sein", sagt sie. Ähnlich wie in den USA, wo es ein strenges Regelwerk für die erste körperliche Beziehung bereits vor der Coronakrise gegeben hat. Der gesamte Freundeskreis könnte künftig danach beurteilt werden, wer sich an die Maßnahmen hält und wer nicht - und gespalten werden. Gerade für Teenager bedeute das jedoch einen tiefen inneren Konflikt. Denn: "Sie sollten offen und unbeschwert sein", so Zartler, "um Erfahrungen zu sammeln und zu lernen."

Im Moment ist allerdings das Gegenteil der Fall. Jedes Gegenüber birgt eine potenzielle Gefahr. Und im Unterschied zu weltweiten Krisen davor, wie zum Beispiel Krieg, darf man sich nicht einmal zusammenrotten, um ein Gefühl von Schutz zu finden. "Die Nähe ist genau das Problem, und das macht es speziell schwierig", ergänzt Kittel. Dazu komme, dass mit Krisen, in denen Menschen eine Schlüsselrolle spielen, stärkere und längere Traumata einhergehen können als etwa nach einer Naturkatastrophe.

Tanzschulen und Zimmertür geschlossen

Freilich ist nicht automatisch jeder danach traumatisiert, und natürlich kommen auch Jugendliche ganz unterschiedlich damit zurecht. Besonders schwierig sei es aber für jene, die schon vor der Krise eher isoliert waren und wenige Freunde hatten - und die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen vor allem in institutionalisierter Form wie bei den Pfadfindern, in der Musik- oder Tanzschule suchten. Also in Instituten, die derzeit geschlossen, oder in Gruppen, die schon lange aufgelöst sind. Und auch die Schule, ein willkommener Ort für flüchtige Gang-Flirts, läuft nur im Schichtbetrieb. Oder hat für all jene bereits geendet, die im Vorjahr die Pflichtschule abgeschlossen haben und nun auf der Suche nach einer der rar gesäten Lehrstellen in der Luft hängen.

Dem Austrian Corona Panel Project der Universität Wien zufolge, dessen Initiator Kittel ist, fühlen sich aktuell nur 30 Prozent der unter 26-Jährigen nie einsam. In einem "normalen" Jahr vor der Krise waren es rund 80 Prozent.

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch ein weiterer Wert: Vor einem Jahr, konkret Ende März 2020, hatten 77 Prozent dieser Altersgruppe behauptet, nie die Wohnung zu verlassen, um Freunde zu treffen. Dieser Wert sei geschrumpft, so Kittel: um mehr als die Hälfte auf nur noch 31 Prozent.

Die Jugendlichen gehen also vermehrt wieder hinaus, suchen den realen Kontakt, und wenn sie zwei Meter Abstand halten, sind diese Treffen ja erlaubt. Auch wenn der Abstand bei einem ersten Date für körperliche Erfahrungen zu groß ist, so ist es laut Zartler dennoch ein wichtiger und sinnvoller Weg, den anderen kennenzulernen und sich auszutauschen. Jugendliche treffen einander, um spazieren zu gehen: Ein davor selten gewordenes Bild taucht wieder auf. "Sie sind ja kreativ und suchen nach Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse so gut es geht ausleben zu können", sagt Zartler.

Kontakt im virtuellen Raum

Wie es zu den Treffen kommt, ist aber anders als damals, in Zeiten bald vergessener Generationen, in denen Verliebte nach regem Briefverkehr heimlich durch den Stadtpark spazierten. Das meiste wird heute online ausgemacht, etwa über Dating-Plattformen - im Corona-Jahr umso mehr. Auch über den virtuellen Raum könnten Kontakte entstehen und aufrecht bleiben, meint dazu Zartler, Jugendliche seien gerade auf diesem Gebiet geübt. Den persönlichen Kontakt ersetze das virtuelle Pendant aber nicht. Zudem könnte man sich dadurch von der Realität entfremden und - vor allem im Teenager-Alter heikel -vorgeben, so zu sein, wie man gern wäre, aber nicht ist.

Die Dates in realita sollten, wie gesagt, ebenfalls distanziert sein. Sie sind es aber freilich nicht immer. "Nicht alle halten sich an die Distanz-Regeln", meint Kittel. Genauso, wie sich auch nicht alle Erwachsenen daran halten. Aber im Unterschied zu den Erwachsenen hat die Situation für die unter 16-Jährigen etwas besonders Aussichtsloses: Bis auf den Impfstoff von Biontech/Pfizer, der für alle ab 16 Jahren zugelassen ist, werden die anderen Vakzine erst an über 18-Jährige verimpft. Das heißt, "die Jüngeren können nur warten, bis sie älter werden", so Kittel. Die Hoffnung auf eine rasche Änderung der Situation gibt es nicht.

Selbstentdeckung der etwas anderen Art

War dieses eine Jahr des Lebens mit dem Coronavirus somit ein verlorenes Teenager-Jahr? Und wie viele weitere Jahre könnten womöglich verloren sein? Barbara Schober, Bildungspsychologin an der Universität Wien, wehrt sich gegen diesen Begriff. "Natürlich hatten viele nicht das, was sie sich gewünscht hätten, und konnten nicht tun, was sie in dieser Entwicklungsstufe sonst tun würden", sagt sie im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Sie haben aber auch viel gelernt. Sie haben gelernt, sich zu organisieren und was sie selbst in Krisensituationen alles schaffen können. Sie haben ihre Ressourcen entdeckt."

Diese etwas andere Art der Selbstentdeckung, wie man zum Beispiel mit Alleinsein umgeht, könne auch Kraft spenden, meint Schober. In dieser schwierigen Situation könnten die Jugendlichen an der gewonnenen Resilienz wachsen. Es sei legitim, zu sagen, man vermisse etwas, und dass es einem nicht gut gehe - die Folgen entscheiden sich aber an der Frage, "was man macht, dass eine Bewältigung möglich wird".

Realexperiment einer ganzen Generation

Die langfristigen Auswirkungen all dessen auf unterschiedliche Bereiche - physisch und psychisch - kenne man aber noch nicht. Eine Erhebung von SOS-Kinderdorf und Rat auf Draht hat zum Beispiel ergeben, dass im Vergleich zu März 2020 mit Ende Februar dieses Jahres um 64 Prozent mehr Kinder und Jugendliche angerufen haben, weil sie unter Schlafstörungen leiden, um 61 Prozent mehr, weil sie Angst haben, und um 15 Prozent mehr mit Suizidgedanken. 159 Prozent mehr Anrufer fühlten sich mit Schule und Fernunterricht überfordert.

"Es ist wie ein riesiges Realexperiment", sagt Schober, "das nicht nur einzelne, kleine Gruppen, sondern eine ganze Generation betrifft." Gerade deshalb müsse man umso mehr hinschauen, was dieses mit der Psyche der Menschen macht, und Hilfe bieten. Vor allem für Jugendliche müssten mehr niederschwellige Angebote zum Beispiel an Schulen geschaffen werden, "um ihnen damit zu zeigen, dass sie mit ihrer Situation und ihren Problemen nicht allein sind".

Vor allem aber gehe es darum, ihnen die Angst zu nehmen, dass etwas mit ihnen nicht stimme. Die Angst, dass sie "schräg" seien, weil sie noch immer keinen Freund oder keine Freundin haben, oder gar selbst schuld daran seien. "Man muss aktiv auf sie zugehen, damit sie nicht glauben, sie haben versagt", so Schober. Das Credo müsse vielmehr lauten: "Du bist nicht falsch. Es gibt nur gerade eine sehr ungewöhnliche Zeit. Aber keine verlorene Generation."