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Politologin: "Regeln müssen effektiv und fair sein"

Von Simon Rosner

Politik

Was ist dran am Argument der mangelnden Mitwirkung an Corona-Regeln? Und wie könnte man sie fördern?


Keine Lockerungen, aber auch keine neuen Regeln - vorerst einmal. Am Abend tagten die Landeshauptleute aus Ostösterreich mit dem Gesundheitsministerium. Vor allem Landespolitiker tönen seit Wochen, dass die Menschen die Maßnahmen nicht mehr befolgen, es daher Öffnungen braucht. Ist das so? Und warum? Die auf Gesundheit spezialisierte Politologin Barbara Prainsack, die auch Teil des Austrian Corona Panel ist, im Interview.

"Wiener Zeitung": Die Politik sagt: Die Maßnahmen werden nicht mehr eingehalten. Gibt es dazu Evidenz?Barbara Prainsack: Wir sehen in einer qualitativen Studie (SolPan-Studie), dass die Menschen in Österreich seit Monaten das Gefühl haben, dass die Maßnahmen nicht mehr effektiv und nicht mehr fair sind und sie sich deshalb nicht mehr an die Regeln halten. Gerade heute hat eine Politikerin wieder gesagt, dass man die Menschen überzeugen müsse, sich wieder zusammenzureißen, aber das geht an dieser Position vorbei. Denn wenn ich der Meinung bin, dass die Regeln nicht zielführend sind, ist mir die Einhaltung egal.

Zu Beginn der Pandemie hat die Regierung die Bevölkerung noch gut erreicht. Was ist da passiert?

In den quantitativen Daten des Corona-Panels haben wir gesehen, dass sich seit Sommer die Einstellung der Menschen zu den Maßnahmen polarisiert hat. Entweder werden die Regeln als viel zu streng oder als viel zu locker wahrgenommen. Wir wissen auch, dass die Menschen das politische Hickhack stört.

Gibt es einen Kipppunkt für diese Entwicklung im Laufe der Pandemie?

Diesen einen Moment gibt es nicht, da es auch nicht die eine Bevölkerung gibt. Aber es gibt Kipppunkte für spezifische Gruppen. Einer war die Aussage von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, dass die Corona-App verpflichtend werden soll. Viele unserer Befragten haben gesagt, dass für sie damit die App tot war. Ein anderer Punkt waren die Lockerungen im Sommer, die viele als zu schnell empfunden haben, wobei das nicht für die gesamte Bevölkerung gilt. Was sehr viel kaputt gemacht hat, war das Offenhalten der Waffengeschäfte. Das war nur ein kleiner Punkt, hat aber das Vertrauen erschüttert. Und natürlich die Skipisten: Da geht es auch um den Mangel an Fairness, denn Skifahren muss ich mir leisten können.

Es gibt den Effekt der konditionalen Kooperation, dass sich Menschen an etwas Kollektivem beteiligen, wenn sie sehen, dass auch andere mitmachen. Gibt es das auch im Negativen? Also dass die Aussage, wonach die Maßnahmen nicht mehr eingehalten werden, die Nicht-Mitwirkung verstärkt?

Ja. Einerseits schätzen die Menschen die Einhaltung der Maßnahmen bei anderen mittlerweile als gering ein, andererseits wissen wir aus qualitativen Befragungen, dass sich Menschen vom Verhalten anderer leiten lassen. Auch das hat mit dem Gefühl der Fairness zu tun. Hat man den Eindruck, dass sich niemand mehr um die Regeln kümmert, dann stellt sich die Frage: Warum quäle ich mich ab? Außerdem gibt es einige Regeln, die von sehr vielen nicht ernst genommen werden, etwa die Ausgangsbeschränkungen am Abend. Fast niemand hält sich strikt an diese Regel.

Haben wir zu viele Regeln? These: Wenn man eine Regel bricht, sinkt die Barriere, andere zu brechen.

Das haben wir zwar nicht abgefragt, aber intuitiv würde ich dem zustimmen. Aus qualitativen Daten sehen wir, dass Menschen der Ansicht sind, dass die Regeln nicht konsistent und manche auch nicht notwendig sind. Wenn ich nun kein Vertrauen ins Gesamtkonzept habe, muss ich selbst überlegen, woran ich mich halte und woran nicht. Und wenn ich dann eine Regel breche, sinkt die Schwelle bei anderen Regeln.

Ein Fokus liegt wegen der Demos auf Corona-Verharmlosern und -Leugnern. Wie groß ist der Teil der Bevölkerung?

Wenn man diese Gruppe an der Behauptung festmacht, dass das Coronavirus nicht schlimmer als die Grippe sei, sind es konstant 16 Prozent. Das sind nicht so viele.

Wie sieht es mit der Gruppe aus, die den persönlichen Nutzen über den Infektionsschutz stellt? Viele gehen ins Büro, weil man dort einfach besser arbeiten kann. Oder sie gehen shoppen, treffen Freunde. Das alles ist legitim, erhöht aber die Zahl der Kontakte und damit das Risiko - trotz Vorsicht.

Dass die Menschen den Eigennutzen über den Allgemeinnutzen stellen, sehen wir in den Daten nicht. Es geht um Grenzkosten und Grenznutzen. Die Grenzkosten, nicht ins Büro zu gehen, sind hoch, wenn man daheim nicht gut arbeiten kann. Der Grenznutzen ist aber niedrig, wenn jemand davon ausgeht, dass viele andere sich ohnehin nicht an die Regeln halten. Das heißt nicht, dass es den Leuten egal ist, wie es anderen geht.

Die Politik sagt auch, dass manche Gruppen für Tests nicht erreicht werden können. Stimmt das?

Bei unserer Befragung zu den Massentests im Dezember haben 20 Prozent gesagt, dass sie sich die Quarantäne nicht leisten könnten. Auch das sind nicht Leute, denen alles egal ist, sondern die die Kosten für eine Quarantäne nicht tragen wollen.

Gibt es Rückschlüsse, die man aus den Befragungen ziehen kann, wie man die Compliance fördern kann?

Schwierig. Wir haben uns natürlich viele Gedanken gemacht, aber es läuft darauf hinaus, dass die Menschen Regeln folgen, wenn sie effektiv und fair sind. Manche fürchten aber zum Beispiel, den Job durch eine Quarantäne zu verlieren. Oder sie fürchten sich vor Strafverfolgung, wenn man beim Contact Tracing angibt, verbotenerweise Freunde getroffen zu haben, ebenso illegal Beschäftigte. Die Kommunikation müsste glaubhaft vermitteln, dass diese Informationen nur dem Ziel der Infektionsreduktion dienen. Soziale, psychologische und wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen müssen hochgefahren werden.

Sehen Sie da einen kurzfristigen Weg zurück zu mehr Vertrauen oder ist der Zug abgefahren?

Es müsste ein radikales Umdenken und gänzlich anderes Handeln sein. Die Regierung müsste wieder mehr mit einer Stimme sprechen und mit Meinungsverschiedenheiten offen umgehen. Wichtig sind auch konkrete Ansagen, wann es zu Lockerungen oder zu strengeren Regeln kommt. Zu sagen, wir schauen einmal, was passiert, und dann konferieren wir mir den Landeshauptleuten, kann es nicht sein. Dann haben die Menschen den Eindruck, dass alles wieder nur politisch ausgeschnapst wird. Es braucht da eine radikale Umkehr, um Vertrauen zurückzugewinnen.