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Die 200-Millionen-Euro-Frage

Von Simon Rosner

Politik

Gab es tatsächlich beim Corona-Impfstoff einen Kostendeckel? Eine erste Spurensuche.


Das Finanzministerium hat einen Kostendeckel von 200 Millionen Euro für die Beschaffung von Corona-Impfstoff eingezogen, deshalb hat Österreich nun zu wenig Impfstoff. Das sagt die Opposition, und sie fordert den Rücktritt von Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP).

Es hat nie einen Kostendeckel gegeben, es musste nur ein Betrag ins Budget geschrieben werden. Die 200 Millionen Euro wurden vom Gesundheitsministerium als Bedarf eingemeldet, es war aber immer klar, dass es bei einem Mehrbedarf keine budgetären Grenzen gibt. Das sagt das Finanzministerium und wirft der Opposition Unwahrheiten vor.

Den Unterschied zwischen diesen Aussagen möchte man, je nach Gusto, gerne Klavier oder Fußball spielen können, wobei ein derartiger Austausch von Sachverhaltsdeutungen zwischen Opposition und Regierung grundsätzlich nicht ungewöhnlich ist. In der Konsequenz geht es bei diesem Thema aber um sehr viel. Jörg Leichtfried, stellvertretender Klubchef der SPÖ, sprach sogar von einem der "größten Skandale der österreichischen Geschichte".

Die präzise Aufklärung, das sei an dieser Stelle gesagt, ist nicht gerade einfach. Ministerien sind keine offenen Bücher. Die Opposition beruft sich nun aber auf Schriftstücke, die zwischen Gesundheits- und Finanzministerium ausgetauscht wurden und die den Verdacht nahelegen, dass es tatsächlich einen Kostendeckel gab. Zumindest interpretieren SPÖ, FPÖ und Neos den Schriftverkehr derart. Es geht um einen Ministerratsvortrag, der Ende Juli 2020 zwischen den beiden Ministerien koordiniert wurde.

Kleine sprachliche Änderung mit großer Wirkung

Das Gesundheitsministerium berichtet darin, dass für die ab 2021 zur Verfügung stehenden Impfstoffe bereits im Budgetjahr 2020 Anzahlungen zu leisten sein werden. Bei einer angestrebten Impfung der gesamten Bevölkerung sei "jedenfalls von einem Gesamtkostenrahmen von mehr als (!) 200 Millionen Euro auszugehen". Aus dem "mehr als" wurde in der vom Finanzministerium retournierten Version ein "bis zu". Und so steht es dann auch im öffentlich einsehbaren Ministerratsvortrag vom 30. Juli. Die Opposition folgert: Aus einem Mindest- wurde ein Maximalbetrag, also ein Kostendeckel.

Das Finanzministerium argumentiert anders. Das "mehr als" sei schlicht keine korrekte Budgetschätzung gewesen, das Redigieren war daher eine formale Notwendigkeit. Auch Neos-Gesundheitssprecher Gerald Loacker räumt ein, dass die "Mehr-als"-Formulierung "kein professioneller Zugang" sei, wie er sagt, doch das Lektorat ergab eben auch eine inhaltliche Änderung. "Und das ist auch kein Zugang".

Aus dem Finanzministerium heißt es: "Es war immer klar: Es gibt kein Limit bei Impfungen." Man beruft sich dabei auch auf Plausibilität. Man wusste, dass nur die Impfung die Pandemie, die Milliarden verschlinge, wird beenden können. Warum dann ausgerechnet beim Impfstoff sparen?

Einigung auf politischer Ebene?

Im Oktober war jedenfalls im Budgetbegleitgesetz, das der Nationalrat Mitte November beschloss, eine Ermächtigung für Covid-Impfstoffe enthalten, "die mit dem Betrag von 200 Millionen Euro begrenzt ist", wie es wörtlich heißt. Das kann man schon als Kostendeckel lesen. Wie dehnbar jedoch budgetäre Begrenzungen Corona-bedingt sein können, offenbart gleich der zweite Absatz desselben Paragraf, in dem die Anschaffung von Antigen-Schnelltests mit 30 Millionen Euro begrenzt werden - und zwar für drei Millionen Stück. Bis heute wurden aber 15 Millionen solcher Schnelltests in Österreich durchgeführt.

Dass auf politischer Ebene, zwischen den Ministern, eine grundsätzliche Vereinbarung bestand, dass es bei der Beschaffung von Impfstoffen keinen Kostendeckel gibt, erscheint aufgrund der Recherchen schlüssig. Am Rande eines Pressetermins Mitte Dezember wies Gesundheitsminister Rudolf Anschober gegenüber dem Autor, angesprochen auf die 200 Millionen Euro, explizit darauf hin, dass die Kosten für die Impfstoffe ja nur einen Teil des Gesamtprojekts darstellen. Finanziert werden müssen nämlich auch die Ärzte, die Logistik, die Lagerung und die Impfstraßen.

Andererseits: Ein Beamter, konkret der (damalige) Impfkoordinator Clemens Martin Auer, kann sich nicht außerhalb des ihm zur Verfügung gestellten Rahmens bewegen. Und Auer hat auch nicht zu wenig Impfstoff bestellt. Bereits im November hatte sich Österreich 16,5 Millionen Impfdosen gesichert, mittlerweile sind es fast 31 Millionen. Wie aus dem Schriftstück hervorgeht, war das erklärte Ziel, ausreichend Impfstoff für die gesamte Bevölkerung zu besorgen - nicht so viel, wie nur irgendwie geht. In der Wirkungsorientierten Folgeabschätzung zum Budgetbegleitgesetz steht, dass "eine Impfung von acht Millionen Menschen in Österreich in einem Gesamtkostenrahmen von bis zu 200 Millionen Euro angestrebt wird".

Daraus ergeben sich Fragen: Hätte Auer mehr bestellen wollen? Hat er um mehr Budget gebeten? Hat er gewusst, dass eine größere Bestellung im Herbst dazu führt, dass auch der Anteil an den einzelnen Liefertranchen größer wird? Und, wenn ja, hat er dieses Wissen auch geteilt?

Wie eingangs erwähnt: Ministerien sind keine offenen Bücher, und zur Recherche standen nur einige Stunden zur Verfügung. Es muss daher zum Mittel der Annäherung zurückgegriffen werden. Und dazu muss man wieder an den Anfang springen.

Der Ministerratsvortrag, in dem erstmals die 200 Millionen Euro auftauchen, stammt von Ende Juli, ein Monat nach dem Beschluss zur gemeinsamen EU-Impfstoff-Beschaffung. Damals war kein Zulassungstermin absehbar, und der (auch mediale) Fokus lag im Erreichen des Herdenschutzes, um die Pandemie zu beenden. Angesichts vorhandener Impfskepsis schien dieser Aspekt prioritär. Wie schafft man es, mindestens 70 Prozent der Bevölkerung zu einer Impfung zu bewegen? Die Frage der Lieferungen und deren genauen Aufteilungen stellte sich im Juli nicht.

Zu wenig Fokus auf der Bestellmenge

Es galt: Alle Länder erhalten dieselbe Menge pro Kopf. Auf diesen Grundsatz beruft sich auch Kanzler Sebastian Kurz in seiner Kritik. Als dann aber nach und nach immer mehr Verträge mit Herstellern abgeschlossen wurden, hatten die Länder bald genug Impfstoff für ihre Bürgerinnen und Bürger. Kaum ein Land reservierte daher bei allen Herstellern das Maximum - was Monate später dann eben zu unterschiedlichen Lieferanteilen und großer Aufregung führte.

Lag das am Kostendeckel? Es erscheint nicht sehr plausibel, dass es eine unverrückbare Obergrenze gab, zumal im Jänner um weitere 115,3 Millionen Euro zusätzliche Impfdosen beschafft wurden. Wahrscheinlicher ist eine mangelhafte Kommunikation, zunächst zwischen den beiden Ministerien, wobei wohl auch die Vorstellung gefehlt haben könnte, dass Beamte ins Budget geschriebene Zahlen ernster nehmen als die Politik selbst.

Die Recherchen deuten auch auf eine suboptimale Kommunikation zwischen Politik und Verwaltung hin. Auer hätte wissen und berichten müssen, dass die Bestellmenge wichtig ist, selbst wenn es bereits genug Impfstoff für alle gibt. Deshalb ist er auch nicht mehr Impfkoordinator. Erinnert sei aber auch: Der Fokus lag bis Jänner auf dem Ende des Impfprogramms, dem Erreichen des Herdenschutzes. Diesem Ziel galt alle Aufmerksamkeit. Dass die Liefermengen am Anfang des Impfprogramms dann auch von großer Bedeutung sein sollten, dafür fehlte im Sommer und Herbst 2020 schlicht die Fantasie.