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Umweltmediziner Hans-Peter Hutter: Der Herr der Wellen

Von Thomas Seifert

Politik
Hans-Peter Hutter vor einem seiner Surf-Fotos, die am Gang des Hygiene-Instituts der Medizinischen Universität Wien hängen.
© Thomas Seifert

Public-Health-Experte Hans-Peter Hutter versucht bei Pandemie-Empfehlungen zwischen Lockdown und Lockerung zu balancieren. Das Gleichgewicht zu halten, ist der Surfer und Skateboarder - den die Öffentlichkeit im Hawaiihemd kennt - gewohnt. Ein Porträt.


Hans-Peter Hutter sitzt gegenüber der Wiener Karlskirche in der Sonne, der lebhafte Wind trägt das Klackern und Rattern von Skateboards über den Platz. Mit diesen Geräuschen ist Hutter aufgewachsen, als Teenager war das sein Revier. Mit seinem Freestyle-Skateboard schrammte er damals an den Curbs (Nicht-Skateboarder sprechen vom Randstein) entlang. Voller Sehnsucht blickt der heute 57-Jährige von den Stufen des in der kalten Jahreszeit trockenen Teichs am Karlsplatz hinüber zu den Skatern.

Hutter ist  Surfer, Klippenspringer, Skateboarder. Der Öffentlichkeit ist der Professor im Hawaii-Hemd im Jahr der postmodernen Pest, also der Corona-Pandemie, auf allen Medienkanälen als die Stimme der interessanten Zwischentöne aufgefallen. Als Wissenschaftler, der nicht nur barsch von Verboten, Lockdowns und Einschränkungen reden wollte - sondern an Hygienekonzepten tüftelte, wie Bäder und Kultureinrichtungen trotz Covid-Gefahr öffnen können. Der über Corona-sicheren Urlaub nachdachte, die Bedeutung von Contact Tracing und Quarantäne-Überwachung betonte. Der für "Distancing mit Köpfchen" statt kopflosem und verwirrendem Vorschrift-Wirrwarr warb. Hutter ist jener Pandemie-Erklärer, der die grimmige Covid-19-Botschaft mit Lockerheit und einem Lächeln präsentiert, ganz so als ginge es bei der Bewältigung der Corona-Krise um das Bestehen eines Abenteuers.

Corona sieht Hutter als Denksportaufgabe für seine Wissenschaft - die die Frage klären soll: Wie kann eine Gesellschaft lernen, mit dem Virus zu leben - und dabei möglichst wenig Schaden nehmen?

Virologinnen, Epidemiologen und Modellierer haben das Infektionsgeschehen im Blick, Intensivmedizinerinnen und Lungenfachärzte sorgten sich zu Recht darum, wie man allen Menschen jene ärztliche Hilfe anbieten kann, die sie brauchen. Nichts ist für Intensivmediziner schlimmer, als Patientinnen ein Intensivbett verweigern zu müssen. Die Rolle von Hutter und seinen Fachkollegen ist umfassender. "Public-Heath-Expertinnen und -Experten müssen sich auch darüber Gedanken machen, was es bedeutet, wenn Schülerinnen und Schüler monatelang nicht in den Klassen sitzen und Menschen sich nicht mehr in die Arztpraxis trauen", sagt Hutters Mentor und langjähriger Wegbegleiter Michael Kundi. Er ist ehemaliger Leiter des Instituts für Umweltgesundheit der Medizinischen Universität Wien. Über Hutter sagt er, ihm sei als Mediziner, Hygieniker und Ökologe die Multidimensionalität des Pandemieproblems sehr bewusst.

Lebensschule auf Boards

Am anderen Ende des Karlsplatz-Teiches hört man, wie das Holz eines Skateboards nach einem verunglückten Stunt auf dem Boden entlang schrammt, Sekunden später hält der Skater sein Brett in den Händen und versucht es erneut. Hutter hat kurz aufgeblickt und sieht dann zu Boden.

Die Schuhbänder seiner schwarzen High-Tops-Vans sind nicht geschnürt, das hält Hutter für Zeitverschwendung. Und wohl auch für ein Style-Statement. Die Schuhe bedeuten ihm viel: 1982 arbeitete er nach der Matura im Vans-Shop in Santa Monica Ecke Broadway 4th Street um 3,50 Dollar pro Stunde als Schuhverkäufer. Los Angeles - damals wie heute das Mekka der Skater. Und die Skaterschuhe der Marke Vans waren damals für die Wiener Szene so etwas wie Jeans für DDR-Teenager in diesen Tagen: heiß begehrt, unerschwinglich und kaum zu bekommen.

Seinem Vater - einem strebsamer, aufstiegsorientierter Baupolier mit Sinn für Schicklichkeit und Stil - würden die offenen Schuhbänder missfallen. Außerhalb einer Baustelle hätte Hutter Senior wohl niemand für einen Hackler gehalten, erzählen die Jugendfreunde des Sohnes, sondern für den Architekten oder zumindest den Baumeister. Hutters Mutter - von Beruf Steuerberaterin - hatte immer schon ein Faible für Bildung und eine unbändige Neugierde auf die Welt. "Die manuelle und die geistige Arbeit - da wohnen zwei Seelen in seiner Brust", erzählt Hutters Mentor Kundi: "Er liebt die körperliche und die geistige Herausforderung."

Kundi glaubt, dass Hutters Leidenschaften - Skaten und Surfen - ihm bei seiner wissenschaftlichen Perspektive nutzen. "Auf einem Brett am weiten Meer kommt keine Hybris auf. Da besteht kaum die Gefahr, dass der Mensch sich als übermächtig empfindet, jegliche technokratische Überheblichkeit wird schnell gebrochen, wenn man auf so einem Surfbrett steht und die Urgewalt und die Kraft der Meereswellen spürt. Das führt zu einer Menschheitsbescheidenheit. Das ist etwas, das wir alle wieder lernen müssen."

Skaten und Surfen als Lebensphilosophie? Christian Gormász von der österreichischen Sportorganisation bejaht das. Gormász kennt Hutter seit vielen Jahren vom Skaten: "Skaten und Surfen, das ist wie Jazz. Da gibt es kein Richtig und kein Falsch. Man braucht Frustrationstoleranz. Skaten heißt: immer wieder hinfallen, immer wieder aufstehen. Und man braucht ein gutes Gefühl für Risiko."

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Das sieht Michael Reinwald genauso. Ihm gehört ein Geschäft für Skaterbedarf, er kennt Hutter seit 1986. Beim Skaten, so Reinwald, "muss man im Flow sein - im Hier und Jetzt. Ablenkung bedeutet Fehler, und Fehler bedeuten Schmerz. Man braucht Kreativität, aber auch eine gewisse Verbissenheit, dass man eine Bewegung so oft versucht, bis man sie durch und durch verinnerlicht hat und beherrscht."

Jede freie Minute gelernt

Verbissenheit und der lockere Hutter - wie geht das zusammen? Zumindest Hartnäckigkeit war ihm schon in Jugendtagen nicht fremd. Reinwald erinnert sich: "Hans-Peter hat immer etwas zum Lesen und Lernen dabei gehabt, er hat jede freie Minute dafür verwendet. ‚Warum studierst du immer weiter?‘, habe ich ihn einmal gefragt. Darauf er: ‚Damit mein Titel irgendwann länger ist als mein Name.‘ Wer ihn kennt, weiß, dass das Ironie ist. Er ist - ganz unösterreichisch - niemand, der so erpicht darauf ist, dass man all seine Titel kennt. Aber Hans-Peter hat es geschafft, zählen Sie ruhig nach: OA Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dipl.-Ing. Dr. med. Hans-Peter Hutter. Sein Titel ist definitiv länger als sein Name."

Hutter versteht sich immer auch als Praktiker, sagt Kundi, sein  Vorgesetzter am Hygieneinstitut: "Er denkt immer mit, wie man die Dinge umsetzen kann und die Menschen so informiert, dass sich niemand von den Fakten erschlagen fühlt. Er überlegt sich tagelang, wie er die Dinge so erklärt, dass sie auch verstanden werden. Eindeutige Kommunikation ist im Fall einer Pandemie ganz, ganz wichtig. Daher geht er nicht in eine TV-Sendung mit der Überzeugung, dass er das schon irgendwie schaffen wird, sondern er überlegt sich das Wording sehr genau. Da geht es darum, zu informieren, zu überzeugen und die Menschen für die Eindämmungsmaßnahmen zu gewinnen, denn das Verhalten jedes Einzelnen kann das Infektionsgeschehen enorm beeinflussen."

In der Pandemie wurden Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus den Fachbereichen Virologie, Intensivmedizin, Immunologie, Epidemiologie und Public Health zu den wichtigsten Auskunftspersonen - nicht nur für die Politik, sondern auch für die Öffentlichkeit. Und besonders Public Heath-Expertinnen und -Experten standen vor der schwierigen Aufgabe, alle Aspekte der Epidemie zu kommunizieren, zur äußersten Vorsicht zu mahnen, aber auch keine Panik zu verbreiten.

Heikle Gratwanderung

Eine heikle Gratwanderung, die nicht allen gelang: Denn Hygieniker sind wohl die "politischsten" Fachleute im Covid-19-Expertenkreis, denn ihre Aufgabe ist der 360-Grad-Blick. Nicht jeder der Experten schaffte die notwendige Differenzierung: Die medizinische Fakultät der Universität Wien musste sich von Andreas Sönnichsen vom Zentrum für Public Health distanzieren, dessen Absage an Masken noch eine der am wenigsten seltsamen Aussagen war. Martin Sprenger von der MedUni Graz fand sich ebenfalls in so mancher Kontroverse wieder, von seinen Briefen an die mittlerweile eingestellte Online-Plattform "Addendum" war der eine oder andere arg zugespitzt. Einer war übertitelt mit: "Lebensschutz als Totschlagargument" - das ging manchen Kollegen eindeutig zu weit.

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Hutter hat vorsichtiger und abwägender argumentiert und betont: "Die Abwägung, ob die Virologen den Ausschlag geben, die Intensivmedizinerinnen, die Bildungsforscher, Psychologinnen oder Public-Health-Experten hängt davon ab, in welcher Phase einer Pandemie-Welle man sich befindet und diese Abwägung kann der Politik niemand abnehmen. Denn dafür benötigt man demokratische Legitimation - die aber keine Wissenschaftlerin und kein Wissenschaftler hat", wie Hutter im Gespräch sagt. Zuletzt machte Hutter den zunächst paradox klingenden Vorschlag, dass man mit Lockerungsschritten die Infektionszahlen senken kann. Man müsse den Menschen Perspektiven geben, sagt Hutter: Besser, sie gehen - wie in Vorarlberg - getestet ins Lokal, anstatt sich irgendwo privat ungetestet und unkontrolliert zu treffen.

Konsequenter Lebensstil

Umwelthygieniker Peter Wallner, der Hutter seit 1993 kennt, hat eine Hypothese, was dessen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit betrifft: "Er verkörpert Normalität, ihn umweht nicht eine professorale Aura. Wenn da dieser coole Typ im Hawaiihemd sagt, dass man jetzt wieder mehr aufpassen muss, dann hören die Menschen zu", glaubt Wallner. "Die Österreicher mögen es eben leger", meint er und verweist auf den Leiter der Infektionsabteilung an der Klinik Favoriten Christoph Wenisch. Wenn Wenisch sich vor laufender Kamera die Covid-19-Impfung verpassen lässt und danach wie ein Fußballer, der gerade ein Tor geschossen hat, die Faust des anderen Arms im Triumph hochreißt, dann vermag das in Österreich vielleicht auch hartgesottene Impfgegner zu überzeugen. Das Hawaiihemd ist übrigens schon seit einigen Jahren Hutters Markenzeichen. Ihn selbst sollen die Hemden in Zeiten wie diesen, in denen er nicht an die Top-Surfspots reisen kann, an den Sand und die Wellen und daran erinnern, wie es ist, auf dem Board zum Lineup zu paddeln.

Hutters Glaubwürdigkeit speist sich nicht zuletzt aus seinem konsequenten Lebensstil. Nachdem er zur Überzeugung gekommen ist, dass Fleischkonsum die Umwelt zerstört, hat er vor vielen Jahren aufgehört, Fleisch zu essen. Und er spricht nicht nur von der Gesundheitsgefahr, die von Feinstaub-Dieselpartikeln ausgeht, sondern er verzichtet auf das Auto und fährt mit dem Fahrrad. Sein Credo: Wenn er es schafft, sein Leben an die Erkenntnisse der Umweltwissenschaft anzupassen, dann schaffen es andere auch. Einziger Schönheitsfehler: Die Flugreisen zu den schönsten Surfspots. Das sei die Sache, die sein "Klimagewissen zum Knirschen bringt", wie er unlängst dem Wirtschaftsmagazin "trend" gestand.

Stadionbad-Souvenir

In seiner Kommunikation nutzen Hutter wohl auch seine langjährigen Erfahrungen mit Medien: Ende der 1990er Jahre testete er für eine "Standard"-Serie Präsidentschaftskandidatinnen auf ihre persönlichen Vorlieben in puncto Essengewohnheiten und Kulturvorlieben, Kaugummis, Cocktailkirschen in den Bars von Manhattan - und natürlich Skateboards. Und der passionierte Theaterliebhaber testete Theatersitze von der Burg bis zum Schauspielhaus. Natürlich auch im Ensemble-Theater am Petersplatz, wo er jahrelang als Billeteur gearbeitet hat und beim Stück "Niemandsland" von Gernot Wolfgruber im Jahr 1984 sogar als Komparse auf der Bühne stand.

Das säkulare Tabernakel seiner Wohnung ist ein Kästchen aus dem Stadionbad. Die Tür mit "seiner" Nummer 1405 durfte er beim Abriss des alten Kästchentrakts mitnehmen, Hutter ließ dann von einem Tischler den Korpus rund um die Tür nachbauen.  Aufgewachsen ist er in der Leopoldstadt, Skateboards und Surfbretter sind Teil der Innenausstattung der Wohnräume.

Sentimentale "Spompanadeln"

Sentimentale "Spompanadeln" dieser Art gibt es mehrere. Seine Freunde berichten von allerlei Listen, die Hutter penibel führt: "Eine Liste über die Zahl von Kleinen Braunen, die er trinkt, eine Liste über die Anzahl der beim Aida gegessenen Ribiseltascherl, eine Liste über die Längen, die er im Stadionbad schwimmt", erzählt sein Skater-Jugendfreund Helmut Ludwig, der heute zwischen der Dominikanischen Republik und Florida unterwegs ist. "Das ist ein Spleen geworden", gibt Hutter zu, "Selbstmonitoring ohne App" nennt das der Mann, der nur ein gar nicht smartes Billigst-Phone besitzt.

Hutter erzählt, dass er bis heute rund 60 Notizbücher gefüllt hat - Tagebücher will er sie nicht nennen. Da steht dann auch, wie viele Tage er im Jahr in Wien verbringt und wie viele im Ausland und wie viele Bücher er im Jahr liest. Pedantische Akribie dieser Art ist einem peniblen Wissenschaftler zweifellos von Nutzen. Früher hat Hutter auch seine Gewichtsschwankungen verzeichnet, aber daran hat sich seit 20 Jahren nichts geändert und das habe er dann aufgegeben, sagt Hutter selbst. Und Helmut Ludwig erzählt: "Ich glaube, der Hans-Peter weiß genau, was er vor vier Jahren und sieben Tagen gemacht hat."

Ganz sicher weiß Hutter, was er ab März 2020 gemacht hat.

Judith Langasch, Hans-Peter Hutter: Sind wir noch zu retten? Orac-Verlag, März 2021, 216 Seiten, 24 Euro.

ORF-Wissenschaftsjournalistin Judith Langasch spricht mit Umweltmediziner Hans-Peter Hutter über gnadenlose Wahrheiten zu Umwelteinflüssen und stellt die alles entscheidende Frage: Sind wir noch zu retten?
Es geht um Umwelteinflüsse wie Pestizide, Feinstaub, Lärm, aber auch um Umweltschutz und die Verantwortung des Einzelnen in der Klimakrise.